Dienstag, 19. Mai 2009

Reminiszenzen - Angst vor Krankheit und Tod

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Erneut ein älterer Artikel von mir. Ich überlasse die Beurteilung meinen Lesern, ob er noch zeitgemäß ist oder sich überholt hat, wie es zunächst das Alter der Literaturangaben vermuten ließe …


Der folgende Aufsatz erschien erstmalig in dem Themenheft „Angst“ von MITEINANDER LEBEN LERNEN, Zeitschrift für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie, 9. Jahrgang, H.4. Juli 1984, S. 24 – 29.



Angst vor Krankheit und Tod


JÜRGEN LÜDER


Beschäftigt man sich mit der Bedeutung des Todes in unserer heutigen Gesellschaft, so stößt man auf ein bemerkenswertes Phänomen: Zeitungen und Fernsehen scheinen sich regelrecht auf Kriege, Verbrechen und Unglücksfälle spezialisiert zu haben. Von der gefühlsmäßigen Seite her aber stellt der heutige Mensch einen solchen Abstand zu diesen Ereignissen her, als passierten sie auf einem anderen Stern und hätten mit dem eigenen Leben nichts zu tun. Oft erzeugen sie sogar noch einen lustvollen Schauer, wenn man an die Beliebtheit von Krimis und Western denkt, von den Auswüchsen moderner Videofilme ganz zu schweigen.


Es ist, als wäre der Tod seiner gefühlsmäßigen Bedeutung entkleidet, als würden die Gefühle vom Ereignis abgespalten, ein Zeichen für eine sich ausbreitende Entfremdung von tieferem Erleben in unserer Gegenwart.


In der Tat spricht Philippe Ariès, der den Wandel der Einstellungen zum Tode im Abendland untersucht hat, vom „verbotenen Tod“ in unserem Zeitalter, der im Gegensatz zu früheren Epochen nur noch als Störfaktor betrachtet und aus dem Bewusstsein ausgeschlossen wird (1).


Vergleicht man die schwerwiegendsten Tabus heute mit denjenigen vor 100 Jahren, so hat sich oberflächlich betrachtet geradezu eine Umkehrung vollzogen. Wurde über Sexualität in der Wilhelminisch-Viktorianischen Zeit peinlich geschwiegen, so erlebten damals Kinder noch unmittelbar mit, dass Angehörige in der Familie starben, konnten also noch direkte Erfahrungen mit dem Tode sammeln. Heute ist es eher so, dass über Sexualität offen zumindest gesprochen werden kann, während Sterbende ihre letzten Tage oft isoliert im Krankenhaus verbringen müssen, getrennt von ihrer bisherigen Lebenswelt. Elisabeth Kübler-Ross, die durch ihre Erforschung der Psyche sterbender Patienten bekannt geworden ist, weist auf die häufige Hilflosigkeit von Pflegepersonen und Angehörigen hin, die aufgrund eigener Ängste dem Sterbenden nicht beistehen können (2).


Erfahrungen in einem Kurs über dieses Thema bestätigten mir diese Einschätzung. Immerhin wollten alle Teilnehmer sich mit dieser Problematik auseinandersetzen, waren also grundsätzlich schon aufgeschlossen. Als aber die Frage auftauchte, welchen Tod jeder einzelne sich selbst wünschte, wurde am häufigsten geäußert: „Ohne Vorwarnung, möglichst ohne es selbst noch zu merken, am liebsten durch Herzschlag mitten im Alltag, ohne längere Krankheit“, was gleichbedeutend ist mit dem Verzicht auf ein Abschiednehmen von sich und den Mitmenschen. Welch ein Gegensatz zu früheren Jahrhunderten, in denen sich wie selbstverständlich die gesamte Umwelt am Sterbelager versammelte und der Sterbende sich sogar durch „Sterbehilfe-Bücher“ auf seinen Tod vorbereitete!


Die Gründe für diese Veränderungen sind vielfältig und können hier nur angedeutet werden: ökonomische, soziale und wissenschaftliche Wandlungen, besonders im Bereich der Medizin und ihrer Behandlungserfolge, die Ablösung der Groß- durch die Kleinfamilie, in der nur noch selten mehrere Generationen zusammenleben, die Ausweitung von Institutionen, in denen Schwache und Kranke fern der Familie versorgt werden, und insbesondere der Wandel der gesellschaftlichen Wertvorstellungen, die H. E. Richter heute für lebensfeindlich hält, da in ihnen nur „Größe, Stärke, ewige Fitness und Jugendlichkeit“ etwas gelten. Nur die „Höhe des Lebens“ habe einen Wert, gegenüber dem derjenige aller anderen Lebensalter verblasse (3).



Grenzerfahrungen


Schon früher haben Menschen nur ungern an den Tod gedacht, wie das schöne Märchen „Die Boten des Todes“ der Brüder Grimm zeigt: Der Tod wird in einem Zweikampf von einem Riesen besiegt, liegt ohnmächtig da, bis ihn ein junger Mensch findet und pflegt. Er offenbart sich dem erstaunten Jüngling und verspricht als Dank, ihm erst seine Boten zu senden, bevor er ihn abholen werde, da er bei niemandem eine Ausnahme machen könne. Der Jüngling „war lustig und guter Dinge und lebte in den Tag hinein“, fühlte sich sicher und störte sich nicht an Krankheiten und Schmerzen, die er überstand. Zu seinem großen Erstaunen tritt eines Tages plötzlich der Tod an ihn heran und erwidert, als der Mensch dessen Wortbruch beklagt: „Schweig, habe ich dir nicht einen Boten über den anderen geschickt? Kam nicht das Fieber, stieß dich an, rüttelte dich und warf dich nieder? Hat der Schwindel dir nicht den Kopf betäubt? … Nagte nicht der Zahnschmerz in deinen Backen? Über alles das, hat nicht mein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich jeden Abend an mich erinnert? Lagst du nicht in der Nacht, als wärst du schon gestorben?“ (4).


Durch die verlängerte Lebenszeit und die großen Erfolge der Medizin können wir heute zumeist die Beschäftigung mit dem Tode weit hinauszögern; viele Krankheiten, die früher lebensgefährlich waren, sind heute keine „Boten“ mehr, weil wir sie leicht bekämpfen können. Aber gibt es nicht genügend „Boten“ auch im Leben eines jeden Menschen in unserer Zeit, die ihn an seine Grenzen gemahnen, an die Beschränktheit der eigenen Kräfte und der zur Verfügung stehenden Lebenszeit, die damit zum Bewusstwerden der eigenen Endlichkeit führen könnten?


So schmerzhaft Erlebnisse des Älterwerdens sind, die sich für manche Menschen zu richtigen Lebenskrisen auswachsen, so bergen sie doch die Chance in sich, mit einem klareren Verständnis für sich selbst und die eigenen Zielsetzungen daraus hervorzugehen, wenn man einer Auseinandersetzung mit der Situation und den eigenen Ängsten standhält. Viele Menschen fühlen sich aber dieser Belastung nicht gewachsen, gehen einige Zeit nach dem schmerzlichen Erlebnis wieder „zur Tagesordnung“ über und greifen somit auf die bewährte Methode der Verdrängung zurück.



Ängste vor dem Tod


Was schreckt die Menschen so, dass sie die Vorstellung an den eigenen Tod lieber verdrängen? M. E. ist hier eine wichtige Unterscheidung erforderlich. Da ist zunächst die sehr verständliche Angst vor Siechtum und Schmerzen, vor einem einsamen Tod im Krankenhaus, verlassen von Angehörigen, die nicht die seelische Kraft haben, dem Sterbenden beizustehen. Auch der Gedanke an manche “Wundermittel“ der heutigen Medizin kann erschrecken, die Vorstellung, an zahlreiche Apparaturen angeschlossen, um jeden Preis am Leben erhalten zu werden¸ auch wenn der Lebenswille des Patienten längst erloschen ist. Dies sind schwierige Fragen der medizinischen Ethik, aber auch der Gesetzgebung, die Ärzten enge Grenzen hinsichtlich einer „Sterbehilfe“ für unheilbar Kranke setzt. Bekannt geworden ist hier der Fall der Amerikanerin Anne Quinlan, deren Eltern 1976 per Gerichtsbeschluss erstritten, die Apparaturen abzustellen. In Deutschland hat sich besonders die „Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben“ (DGHS) der Frage angenommen, wie der einzelne wieder Einfluss auf sein eigenes Sterben nehmen kann, z.B. über eine schriftliche Verfügung, in einem unheilbaren Krankheitsstadium Methoden der Intensivmedizin abzulehnen.


Die Gründe der Verdrängung der Todesgedanken liegen jedoch tiefer. Hinter den Todesängsten verbergen sich Lebensängste, Ängste vor der Leere eines Lebens, dem der Sinn entzogen ist. Was die Menschen wirklich bewegt, dürfte damit ebenfalls weniger die Frage sein, ob es für sie ein Leben nach, sondern vor dem Tod gibt, das wirklich lebenswert ist. So formulierte schon Spinoza: „Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod, und seine ganze Weisheit ist auf das Leben gerichtet“ (5). Die Frage nach dem Tod ist somit eigentlich die nach dem Leben: Was habe ich bisher aus meinem Leben gemacht, was möchte ich noch erreichen? Eine Übung, die viele Menschen zu Sylvester oder an Geburtstagen pflegen, um die Gedanken daran dann schnell wieder wegzuwischen, weil die Begegnung mit sich selbst bei halbwegs objektivem Blick schmerzhaft und desillusionierend ist.


So müssten sich viele Menschen eingestehen, dass sie „die ihnen zugemessene Lebenszeit gar nicht richtig genutzt haben. Aus Angst vor Entscheidungen und Verantwortungsübernahme flohen sie stets aus den jeweils gegebenen Situationen und vertrösteten sich mit Zukunftsträumereien und Vergangenheitsreprisen. Das Leben findet aber immer ‚im Augenblick’ statt. Wer es da nicht erhascht und ergreift, ist auch um seine Zukunft betrogen, da diese ja ebenfalls in Form von Augenblicken heranrollt oder heranreift“ (6).



Sich der Krise stellen


Es ist aber verständlich, dass viele Menschen eine tiefergehende Auseinandersetzung m it der Frage nach dem eigenen Leben und Sterben scheuen, weil sie sich hilflos fühlen. Durch die Tabuisierung des Todes in unserer Gesellschaft fehlen im normalen Alltag Hilfestellungen und besonders Vorbilder, an denen man sich in dieser Frage orientieren könnte, zumal die Religion ihre frühere stützende Funktion weitgehend eingebüßt hat.


Ermutigend kann hingegen die Beschäftigung mit Psychologie, Psychotherapie, Philosophie, Literatur und manchen Biographien sein, insbesondere, wenn hierbei der Entwicklungsgedanke, die Idee der Selbstverwirklichung und des seelischen Wachstums bis zum Tod als Lebensaufgabe des Menschen deutlich wird. Sich seinen Ängsten stellen hieße in diesem Sinne, nach neuen Wegen zu suchen, im eigenen Leben höhere Werte anzustreben und durch die Bemühung um mehr echte Nähe sich selbst und anderen gegenüber zufriedener zu werden, eine Seelenlage, aus der heraus ein Abschiednehmen und Loslassen erst möglich wird.


Tobias Brocher betont in einem autobiographischen Bericht, dass niemand im Leben zu kurz komme, der sich ernsthaft mit seinen Selbsttäuschungen und Illusionen auseinandersetze, zumal die Aufgabe des Lebens in einem ständigen Wandel bestehe: „Es ist uns viel Zeit gegeben, uns auf jene letzte Änderung vorzubereiten, die wir Tod nennen, aber wir müssen sie nutzen, um die Angst vor der Veränderung auf dieser langen Strecke zu verlieren, indem wir uns ändern“ (7).


Für wen kann das Nachdenken über sich eine stärkere Krise bedeuten als für einen Schwerkranken, der einsehen muss, dass seine Lebenszeit bald ablaufen wird? Neigten früher Ärzte und Verwandte in den meisten Fällen dazu, z.B. einem Krebskranken seinen Zustand zu verschweigen, so gibt es zunehmend mehr Berichte von Betroffenen, die das Wissen um ihre Krankheit als Wende betrachten, die sie zu mehr Bewusstsein über ihre Lebensführung gebracht hat. Sei es anklagend unversöhnlich wie in Fritz Zorns „Mars“ oder mehr sensibel wahrnehmend wie in Maxie Wanders „Leben wär` eine prima Alternative“.


H. E. Richter hat bei unheilbar Kranken, die ihr Sterben akzeptierten, beobachten können, dass sich die Qualität ihres Lebens änderte, sie Konflikte mit ihnen wichtigen Menschen klärten und noch positive Gemeinsamkeiten verwirklichten.


„Man kann nur schwer sterben oder einen anderen sterben lassen, wenn in der Beziehung unbewältigte Ängste, Rivalitäten, Hass- und Schuldgefühle angestaut sind. Dann verbleibt man unausgesöhnt mit dem Partner wie mit sich selbst. Und das macht eine definitive Trennung unmöglich“ (8).


Dennoch: Ist es nicht vielleicht für ein Umdenken schon zu spät, kann eine gegebenenfalls nur kurze Spanne intensiv gestalteten Lebens überhaupt ein Gegengewicht gegen viele verstrichene Jahre sein? Ich denke, dass die Qualität des Lebens einen höheren Wert darstellt als seine Quantität. Wir haben zwar überwiegend nicht mehr das Gottvertrauen, das einen Luther zu dem Ausspruch bewegte, er würde heute noch einen Baum pflanzen, selbst wenn er wüsste, dass morgen die Welt unterginge. Aus atheistischer Sicht kommt Bertrand Russell aber zu einer ähnlichen Bewertung, das Wertvolle im Leben betonend: „Das Glück ist wahr, auch dann, wenn es ein Ende finden muss, und auch das Denken und die Liebe verlieren nicht ihren Wert, weil sie nicht ewig währen“ (9).


Das schönste literarische Beispiel dafür, welche qualitativen Veränderungen hin zu einer eigenständigen Persönlichkeit auch noch für einen alten Menschen gegeben sein können, der die Führung seines Lebens aus jahrzehntelanger Fremdbestimmung in Eigenverantwortung übernimmt, ist für mich Bertolt Brechts Erzählung „Die unwürdige Greisin“. Brecht schildert hier die letzten zwei Lebensjahre einer 72jährigen Frau, die nach dem Tode ihres Mannes entgegen den Erwartungen der Verwandtschaft ein völlig unabhängiges unkonventionelles Leben in einem neuen Bekanntenkreis zu führen beginnt. Brecht schließt seinen Bericht: „Sie hatte die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen.“



Literatur

(1) Philippe Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, München 1981.

(2) Elsabeth Kübler-Ross, Gespräche mit Sterbenden, Stuttgart 1969.

(3) Horst E. Richter, Vom Umgang mit der Angst, in: Sich der Krise stellen, Reinbek 1981, S. 136 ff.

(4) Zit. nach: Dietrich Steinwede (Hrsg.), Wie das Leben durch die Welt wanderte, Märchen der Menschen von Tod und Leben, Gütersloh 1980.

(5) Zit. nach: Josef Rattner, Psychoanalyse und Gruppenpsychotherapie der Angst, München 1972, S. 83.

(6) Josef Rattner, Weisheit als Charakterzug, in: Jahrbuch für verstehende Tiefenpsychologie und Kulturanalyse Bd. 1, Berlin 1881, S. 143.

(7) Tobias Brocher, Gegen die Tugend der Beharrlichkeit, in: G. Rein (Hrsg.), Warum ich mich geändert habe, Stuttgart 1971, S. 14.

(8) Horst E. Richter (1981), S. 143.

(9) Bertrand Russell, Warum ich kein Christ bin, Reinbek 1968, S. 62.

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