Montag, 22. Dezember 2008

Weihnachtsgeschichten vorlesen II

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In meinem letzten blog habe ich von Weihnachtsgeschichten berichtet und von der Schwierigkeit heutiger Autoren, herauszufinden, was denn wirklich Inhalt und Sinn von Weihnachten ist. Diese Frage stellt sich nicht, wenn man den ursprünglichen Bibel-Text liest, fundamental und sprachlich einmalig. Ich habe ihn im Laufe der Jahre so oft gehört, dass er regelrecht zu einem „Ohrwurm“ für mich geworden ist. Weihnachten ohne das Lukas-Evangelium – irgendwie geht das nicht, es ist wie ein Geburtstag ohne Geburtstagskind.

Übrigens ist dies ein Text, der sich im richtigen Kontext hervorragend vorlesen lässt!

Lukas-Evangelium, Kap. 2

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.

Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war.

Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt.

Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war,
damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger.
Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte.

Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde.

Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr.

Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird;

Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.
Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.

Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen:

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.

Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen.

Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kind gesagt war.

Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten.
Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.

Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.

(Lutherbibel Sonderausgabe, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1991)



Ich habe beim vorhergehenden blog von meiner Vorliebe für „schräge“ Weihnachtsgeschichten berichtet. Das stimmt nicht in allen Fällen! Es gibt ausnahmsweise auch sehr fromme Geschichten, die ich mag und vorlese, wenn sich eine (eher seltene) Gelegenheit dafür bietet. Unnachahmlich finde ich z.B. die Bilder, die Selma Lagerlöf in ihrer Geschichte „Die Heilige Nacht“ für die Atmosphäre der Geburtsnacht Christi findet, wenn die Hunde nicht beißen, der Speer nicht tötet und das Feuer nicht brennt, weil die Nacht der Barmherzigkeit angebrochen ist. Das finde ich so starke Bilder, dass ich auch den eher etwas sentimentalen Schluss des Märchens lesen mag.


Auszüge aus: Die Heilige Nacht

Es war an einem Weihnachtstag, alle waren zur Kirche gefahren, außer Großmutter und mir. Ich glaube, wir beide waren im ganzen Hause allein. Wir hatten nicht mitfahren können, weil die eine zu jung und die andere zu alt war. Und alle beide waren wir betrübt, dass wir nicht zum Mettegesang fahren und die Weihnachtslichter sehen konnten.

Aber wie wir so in unserer Einsamkeit saßen, fing Großmutter zu erzählen an.

„Es war einmal ein Mann“, sagte sie, „der in die dunkle Nacht hinausging, um sich Feuer zu leihen. Er ging von Haus zu Haus und klopfte an. „Ihr lieben Leute, helft mir!“ sagte er. „Mein Weib hat eben ein Kindlein geboren, und ich muss Feuer anzünden, um es und den Kleinen zu erwärmen .“

Aber es war tiefe Nacht, so dass alle Menschen schliefen, und niemand antwortete ihm.

Der Mann ging und ging. Endlich erblickte er in weiter Ferne einen Feuerschein. Da wanderte er dieser Richtung zu und sah, dass das Feuer im Freien brannte. Eine Menge weißer Schafe lag rings um das Feuer und schlief, und ein alter Hirt wachte über der Herde. Als der Mann, der Feuer leihen wollte, zu den Schafen kam, sah er, dass drei große Hunde zu Füßen des Hirten ruhten und schliefen. Sie erwachten alle drei bei seinem Kommen und sperrten ihre weiten Rachen auf, als ob sie bellen wollten, aber man vernahm keinen Laut. Der Mann sah, dass sich die Haare auf ihrem Rücken sträubten, er sah, wie ihre scharfen Zähne funkelnd weiß im Feuerschein leuchteten, und wie sie auf ihn losstürzten. Er fühlte, dass einer nach seiner Hand und dass einer sich an seine Kehle hängte. Aber die Kinnladen und die Zähne, mit denen die Hunde beißen wollten, gehorchten ihnen nicht, und der Mann litt nicht den kleinsten Schaden.

Nun wollte der Mann weitergehen , um das zu finden, was er brauchte. Aber die Schafe lagen so dicht nebeneinander, Rücken an Rücken, dass er nicht vorwärts kommen konnte. Da stieg der Mann auf die Rücken der Tiere und wanderte über sie hin dem Feuer zu. Und keins von den Tieren wachte auf oder regte sich.“

Soweit hatte Großmutter ungestört erzählen können, aber nun konnte ich es nicht lassen, sie zu unterbrechen. „Warum regten sie sich nicht, Großmutter?“ fragte ich.

„Das wirst du nach einem Weilchen schon erfahren“, sagte Großmutter und fuhr mit ihrer Geschichte fort. „Als der Mann fast beim Feuer angelangt war, sah der Hirt auf. Es war ein alter, mürrischer Mann, der unwirsch und hart gegen alle Menschen war. Und als er einen Fremden kommen sah, griff er nach seinem langen, spitzigen Stabe, den er in der Hand zu halten pflegte, wenn er seine Herde hütete, und warf ihn nach ihm. Und der Stab fuhr zischend gerade auf den Mann los, aber ehe er ihn traf, wich er zur Seite und sauste, an ihm vorbei, weit über das Feld.“

Als Großmutter soweit gekommen war, unterbrach ich sie abermals. „Großmutter, warum wollte der Stock den Mann nicht schlagen?“ Aber Großmutter ließ es sich nicht einfallen, mir zu antworten, sondern fuhr mit ihrer Erzählung fort.

„Nun kam der Mann zu dem Hirten und sagte zu ihm: „Guter Freund, hilf mir und leih mir ein wenig Feuer. Mein Weib hat eben ein Kindlein geboren, und ich muss Feuer machen, um es und den Kleinen zu erwärmen.“ Der Hirt hätte am liebsten nein gesagt, aber als er daran dachte, dass die Hunde dem Mann nicht hatten schaden können, dass die Schafe nicht vor ihm davongelaufen waren und sein Stab ihn nicht fällen wollte, da wurde ihm ein wenig bange, und er wagte es nicht, dem Fremden das abzuschlagen, was er begehrte.“Nimm, soviel du brauchst“, sagte er zu dem Manne.

Aber das Feuer war beinahe ausgebrannt. Es waren keine Scheite und Zweige mehr übrig, sondern nur ein großer Gluthaufen, und der Fremde hatte weder Schaufel noch Eimer, worin er die roten Kohlen hätte tragen können.

Als der Hirt dies sah, sagte er abermals: “Nimm, soviel du brauchst!“ Und er freute sich, dass der Mann kein Feuer wegtragen konnte. Aber der Mann beugte sich hinunter, holte die Kohlen mit bloßen Händen aus der Asche und legte sie in seinen Mantel. Und weder versengten die Kohlen seine Hände, als er sie berührte, noch versengten sie seinen Mantel, sondern der Mann trug sie fort, als wenn es Nüsse oder Äpfel gewesen wären.“

Aber hier wurde die Märchenerzählerin zum drittenmal unterbrochen. „Großmutter, warum wollte die Kohle den Mann nicht brennen?“

„Das wirst du schon hören“, sagte Großmutter, und dann erzählte sie weiter.

„Als dieser Hirt, der ein so böser, mürrischer Mann war, dies alles sah, begann er sich bei sich selbst zu wundern: “Was kann dies für eine Nacht sein, wo die Hunde die Schafe nicht beißen, die Schafe nicht erschrecken, die Lanze nicht tötet und das Feuer nicht brennt?“ Er rief den Fremden zurück und sagte zu ihm: „Was ist dies für eine Nacht? Und woher kommt es, dass alle Dinge dir Barmherzigkeit zeigen?“

Da sagte der Mann: “Ich kann es dir nicht sagen, wenn du selber es nicht siehst.“ Und er wollte seiner Wege gehen, um bald ein Feuer anzünden und Weib und Kind wärmen zu können.

Aber da dachte der Hirt, er wolle den Mann nicht ganz aus dem Gesicht verlieren, bevor er erfahren hätte, was dies alles bedeute. Er stand auf und ging ihm n ach, bis er dorthin kam, wo der Fremde daheim war. Da sah der Hirt, dass der Mann nicht einmal eine Hütte hatte, um darin zu wohnen, sondern er hatte sein Weib und sein Kind in einer Berggrotte liegen, wo es nichts gab als nackte, kalte Steinwände.

Aber der Hirt dachte, dass das arme unschuldige Kindlein vielleicht dort in der Grotte erfrieren würde, und obgleich er ein harter Mann war, wurde er davon doch ergriffen und beschloss, dem Kind zu helfen. Und er löste sein Ränzel von der Schulter und nahm daraus ein weiches, weißes Schaffell hervor. Das gab er dem fremden Manne und sagte, er möge das Kind darauf betten.

Aber in demselben Augenblick, in dem er zeigte, dass auch er barmherzig sein konnte, wurden ihm die Augen geöffnet, und er sah, was er vorher nicht hatte sehen, und hörte, was er vorher nicht hatte hören können.

Er sah, dass rund um ihn ein dichter Kreis von kleinen, silberbeflügelten Englein stand. Und jedes von ihnen hielt ein Saitenspiel in der Hand, und alle sangen sie mit lauter Stimme, dass in dieser Nacht der Heiland geboren wäre, der die Welt von ihren Sünden erlösen solle.

Da begriff er, warum in dieser Nacht alle Dinge so froh waren, dass sie niemand etwas zuleide tun wollten. Und nicht nur rings um den Hirten waren Engel, sondern er sah sie überall. Sie saßen in der Grotte, und sie saßen auf dem Berge, und sie flogen unter dem Himmel. Sie kamen in großen Scharen über den Weg gegangen, und wie sie vorbeikamen, blieben sie stehen und warfen einen Blick auf das Kind.

Es herrschte eitel Jubel und Freude und Singen und Spiel, und das alles sah er in der dunklen Nacht, in der er früher nichts zu gewahren vermocht hatte. Und er wurde so froh, dass seine Augen geöffnet waren, dass er auf die Knie fiel und Gott dankte.“

Aber als Großmutter soweit gekommen war, seufzte sie und sagte: „Aber was der Hirte sah, das könnten wir auch sehen, denn die Engel fliegen in jeder Weihnachtsnacht unter dem Himmel, wenn wir sie nur zu gewahren vermögen.“

Und dann legte Großmutter ihre Hand auf meinen Kopf und sagte: „Dies sollst du dir merken, denn es ist so wahr, wie ich dich sehe und du mich siehst. Nicht auf Lichter und Lampen kommt es an und es liegt nicht an Mond und Sonne, sondern was not tut, ist, dass wir Augen haben, die Gottes Herrlichkeit sehen können.“

Selma Lagerlöf


Aus: Selma Lagerlöf: Geschichten zur Weihnachtszeit. 2.Aufl. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn, 1979. (= Gütersloher Taschenbücher Siebenstern, Bd. 286). Darin: S. 59 – 65.
[Da Selma Lagerlöf bereits 1940 gestorben ist und damit wahrscheinlich die Schutzfristen für ihre Texte aufgehoben sind, hoffe ich sehr, dass ich mit dieser längeren Textpassage kein Copyright verletze.]

Weihnachtsgeschichten vorlesen I

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Überwiegend hat es mir große Vorteile gebracht, im Rahmen meiner Altersteilzeit jetzt das Leben eines Rentners führen zu können, ohne die früheren täglichen dienstlichen Verpflichtungen und mit einem größeren zeitlichen Rahmen für mich. Aber eine Ausnahme habe ich jetzt doch vor Weihnachten erlebt: Niemand wollte von mir Weihnachtsgeschichten vorgelesen bekommen! Ein herber Verlust, weil mir das Vorlesen jedes Jahr viel Freude gemacht hat. Als kleiner Ersatz werde ich deshalb hier im blog davon berichten.


Da ich schlecht übers Internet vorlesen kann, meine „Favoriten“ auch Copyright-geschützt sind, so dass ich nicht einfach eine Kopie ins Netz stellen kann, will ich hier nur einige der in meinen Augen besonders guten und auch zum Vorlesen geeigneten Geschichten vorstellen und vielleicht zum Nachlesen oder Vorlesen anregen.


Bemerkenswert finde ich, dass sich im Bereich der Weihnachtsgeschichten ein ganz anderes Bild ergibt als bei Gedichten, von denen ich vor ein paar Tagen an dieser Stelle berichtet habe. Sentimentale Geschichten kenne ich kaum (hätte sie aber auch nach drei Absätzen weggelegt); bei den zeitgenössischen Geschichten haben die Verfasser nach meiner Einschätzung oft Mühe, das Besondere an Weihnachten in irgendeiner Form einzufangen, sind sich aber meistens einig, dass es nichts mit Konsum, Sozialprestige oder hülsenhaften Konventionen zu tun haben kann. Es reizt dann besonders Satiriker, die Finger in die Wunde eines sinnentleerten Weihnachtens zu legen. Aber nur derjenige kann m.E. eine Satire schreiben, der irgendwo im Hinterkopf noch eine Idee hat, wie die Verhältnisse idealer weise anders laufen müssten.


Absoluter „Hit“ bei meinen (Vor-)Lesungen war immer die Geschichte von Robert Gernhardt „Die Falle“ (veröffentlicht 1977). Hier macht sich Gernhardt über das Weihnachten einer neureichen Konsumbürgerfamilie lustig (Vorsicht! Ähnlichkeiten mit Lebenden sind nicht ausgeschlossen, auch wenn die Geschichte mehr in der Zeit der vergangenen 68-Generation spielt). Der als Weihnachtsmann angeheuerte Student bringt nacheinander immer mehr weihnachtliche Helfer ins Spiel, die die übertölpelten Eltern nahezu um ihren Verstand bringen, den beiden Kindern aber eine kleine Ahnung davon verschaffen, wie Weihnachten auch sein könnte.


Diese Geschichte ist auch – nach vielen Jahren - immer noch ein Hit in den Buchhandlungen.

Ich selbst habe sie in den letzten Jahren immer aus dem schönen Sammelband von Regine Hildebrandt „Geschichten vom anderen Weihnachten“ vorgelesen. Dieser Band kommt meiner Vorliebe für eher „schräge“ Weihnachtsgeschichten entgegen, die offenbar auch Regine Hildebrandt, die verstorbene hoch engagierte Sozialministerin Brandenburgs, teilte. Aber wie sollte Weihnachten auch anders zu verstehen sein? Immerhin ging es ja einmal um die Geschichte der Geburt eines Kindes in großer Armut, mit Eltern ohne Bleibe, unverheiratet zu allem Überfluss auch noch, heute wahrscheinlich ein Fall für die Sozialarbeiter der Jugendfürsorge (wenn die denn genügend Zeit hätten und ihre Mittel nicht gerade wieder einmal gekürzt würden, so dass sie die Auflage hätten, nur bei den wirklich unumgänglichen Katastrophenfällen Hilfe zu organisieren, die etwas kostet.)


Eine andere, bittere und gleichzeitig sehr komische Satire ist der Klassiker von Heinrich Böll „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ (veröffentlicht 1951). Alles nur wegen Tante Milla! Da sonst ihr psychotischer Zusammenbruch droht, muss die gutbürgerliche Familie ihr jeden Tag erneut Weihnachten ausrichten. Der Tante geht es dabei gut, nur die Familie zeigt in den folgenden zwei Jahren, in denen die Geschichte spielt, gewisse Verschleißerscheinungen … Ein systemischer Familientherapeut (den es 1951 noch nicht gab), könnte seine Freude daran haben … Leider ist diese Geschichte sehr lang und erfordert deshalb ein geduldiges Publikum.- „Frieden, Frieden, flüsterte der Engel." Natürlich ein mechanischer, dafür aber täglich ... Das ist eine Formulierung, die sich in meinem Gehirn festgesetzt hat.


In einem eher „schrägen Milieu“ spielend, dabei aber mehr liebenswürdig humorvoll als bissig satirisch, ist mein letzter „Weihnachtsklassiker“, nämlich „Die Leihgabe“ von Wolfdietrich Schnurre aus seinem Erzählband „Als Vaters Bart noch rot war“ (erschienen 1958). Schon das Lokalkolorit hatte es mir immer angetan: Der kleine Junge als Ich-Erzähler, der mit seinem allein erziehenden arbeitslosen Vater zur Zeit der Weltwirtschaftskrise (der aus dem letzten Jahrhundert, nicht der, auf die als mögliches zukünftiges Ereignis z.Zt. alle Medien starren!) tagsüber ins Museum für Naturkunde in die Invalidenstr. geht, um sich bei den Sauriergerippen etwas aufzuwärmen, und Frieda, die Freundin des Papas, die beide gelegentlich mit Essen versorgt, das sie als Küchenhilfe in einer Großdestille am Alexanderplatz organisieren kann. Bei so vielen Berührungspunkten muss einem Berliner ja schon fast das Herz übergehen! In ihrer großen Armut (erinnert an HARTZ IV oder weniger) ist der Wunsch des Jungen nach einem Weihnachtsbaum für den Vater ein riesiges Problem, denn „klauen“ (Vorschlag von Frieda) will er keinen. Bis er eine ungewöhnliche Idee hat …


Ich mag die Sprache dieser Geschichte und möchte deshalb eine kleine Kostprobe anführen:


Die Blautanne, auf die Vater es abgesehen hatte, stand inmitten eines strohgedeckten Rosenrondells. Sie war gut anderthalb Meter hoch und ein Muster an ebenmäßigem Wuchs.


Da der Boden nur dicht unter der Oberfläche gefroren war, dauerte es auch gar nicht lange, und Vater hatte die Wurzeln freigelegt. Behutsam kippten wir den Baum darauf um, schoben ihn mit den Wurzeln in den Sack, Vater hing seine Joppe über das Ende, das raussah, wir schippten das Loch zu, Stroh wurde drübergestreut, Vater lud sich den Baum auf die Schulter, und wir gingen nach Hause.


Hier füllten wir die große Zinkwanne mit Wasser und stellten den Baum rein.


Als ich am nächsten Morgen aufwachte, waren Vater und Frieda schon dabei, ihn zu schmücken. Er war jetzt mit Hilfe einer Schnur an der Decke befestigt, und Frieda hatte aus Stanniolpapier allerlei Sterne geschnitten, die sie an seinen Zweigen aufhängte; sie sahen sehr hübsch aus. Auch einige Lebkuchenmänner sah ich hängen.


Ich wollte den beiden den Spaß nicht verderben; daher tat ich, als schliefe ich noch. Dabei überlegte ich mir, wie ich mich für ihre Nettigkeit revanchieren könnte.


Schließlich fiel mir ein: Vater hatte sich einen Weihnachtsbaum geborgt, warum sollte ich es nicht fertigbringen, mir über die Feiertage unser verpfändetes Grammophon auszuleihen? Ich tat also, als wachte ich eben erst auf, bejubelte vorschriftsmäßig den Baum, und dann zog ich mich an und ging los.


Der Pfandleiher war ein furchtbarer Mensch; schon als wir zum erstenmal bei ihm gewesen waren und Vater ihm seinen Mantel gegeben hatte, hätte ich dem Kerl sonst was zufügen mögen; aber jetzt musste man freundlich zu ihm sein.


Ich gab mir auch große Mühe. Ich erzählte ihm was von zwei Großmüttern und „gerade zu Weihnachten“ und „letzter Freude auf alte Tage“ und so, und plötzlich holte der Pfandleiher aus und haute mir eine herunter und sagte ganz ruhig:


„Wie oft du sonst schwindelst, ist mir egal; aber zu Weihnachten wird die Wahrheit gesagt, verstanden?“


Darauf schlurfte er in den Nebenraum und brachte das Grammophon an. „Aber wehe, ihr macht was an ihm kaputt! Und nur für drei Tage! Und auch bloß, weil du´s bist!“


Neugierig auf die ganze Geschichte geworden? Ich füge – für alle Fälle – meine Quellen an.


Da alle drei Geschichten zu den bekannteren gehören, vermute ich, dass es kein Problem sein sollte, sie auch in neueren Anthologien zu finden!

1. Heinrich Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit. Satiren. – München: Deutscher Taschenbuch Vlg. 1966. (= dtv 350). Darin: „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ (1951). S. 7 – 34.

2. Robert Gernhardt: Die Falle. – In: Regine Hildebrandt: Geschichten vom anderen Weihnachten. A.a.O. S.19 – 27.

3. Regine Hildebrandt (Hrsg.): Geschichten vom anderen Weihnachten.- Freiburg i.Br.: Herder 1996. (= Herder Spektrum Bd. 4486).

4. Wolfdietrich Schnurre: Als Vaters Bart noch rot war. Ein Roman in Geschichten.- Frankfurt a.M. u.a.: Ullstein 1973. (= Ullstein Buch 382). Darin: „Die Leihgabe“. S. 51 – 56. [Diese Geschichte ist auch bei R. Hildebrandt abgedruckt.]

Montag, 15. Dezember 2008

Weihnachtsgrüße und die Verheißung von Frieden

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Seit mehreren Jahren haben meine Frau Annegret und ich zu Weihnachten einen kleinen Rundbrief verfasst, gerichtet an unsere Freunde und Verwandten. Versehen ist er immer mit einem aktuellen Familienfoto, auf dem man über die Jahre hin unseren kleinen Sohn Paul Jakob wachsen sehen kann, einem Gruß an alle „in Nah und Fern“ und einem gemeinsam ausgewählten kurzen Text.

In diesem Jahr haben wir eine ganze Weile gebraucht, ehe wir einen Text gefunden hatten, den wir sowohl gemeinsam sehr schätzen als auch den Eindruck hatten, dass er eine Botschaft übermitteln kann, die wir allen zu Weihnachten zum Geschenk machen möchten. Dass ein solcher Text sich selbst dabei überhaupt nicht auf Weihnachten beziehen muss, ist eine andere Frage. Aber „Friede auf Erden“ war bereits die Verheißung der Engel an die Hirten im Lukas-Evangelium. So möge es uns Peter Schütt verzeihen, wenn wir sein wunderbares Gedicht in diesem Zusammenhang zitieren.


Hunger

Manchmal habe ich
Hunger
nach nichts als
einem freundlichen Wort –
ein Wort
gegen die Kälte,
gegen die Angst,
ein einziges Wort
zum Aufwärmen
und zum Luftholen,
ein Wort ohne Bleigewicht,
n
ur beladen mit
einem Gran Frieden,
damit es nicht
gleich davonfliegt.

Peter Schütt


Erstaunt waren wir, dass wir beide dieses Gedicht bereits so lange kannten. Immerhin sind wir ja ein „Wessi - Ossi“- Paar! Das finde ich für unser konkretes Zusammenleben zwar schon lange nicht mehr sonderlich bedeutsam, aber diese Übereinstimmung reicht ja bis in die Phase zurück, in der Westdeutsche und Ostdeutsche z.T. sehr unterschiedliche Erfahrungen machten. Für einen westdeutschen Autor war es damals nicht gerade selbstverständlich, auch in der DDR gelesen und gedruckt zu werden! Bei allem politischen Engagement von Peter Schütt ist sicherlich dieses Gedicht weitestgehend „ideologiefrei“, vielleicht hat es uns gerade deshalb beide so angesprochen.

Ich kannte das Gedicht aus dem Jugendbuch von Hildegard Wohlgemuth (Hrsg.): Frieden: Mehr als ein Wort. Gedichte und Geschichten. Erschienen im Rowohlt-Vlg., Reinbek bei Hamburg, in der Reihe „Rotfuchs“, Bd. 287 aus dem Jahr 1981. (darin S. 38). In meinen Aufzeichnungen habe ich „9.6.1982“ vermerkt.

Annegret hingegen kannte das Gedicht, das auch sie sich zusätzlich in ihre damalige Kladde für besondere Texte abgeschrieben hatte, aus dem Buch: Peter Schütt: Bäume sterben aufrecht. Neue Gedichte. - Berlin [Ost]: Vlg. Tribüne 1984. (darin S. 26).

Samstag, 13. Dezember 2008

Weihnachten naht ...

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Als kleiner Junge habe ich um diese Zeit herum immer ein neues Weihnachtsgedicht gelernt, vielleicht für die Schule, sicherlich auch fürs Aufsagen am 24. Das finde ich aus heutiger Sicht gut fürs Gedächtnis, gut fürs Gemüt und eine bleibende Erinnerung. Wenn ich mir diese Gedichte allerdings heute anschaue, so sind sie nach meinen erwachsenen Maßstäben überwiegend nicht gerade „große Literatur“, es „rumpelt und pumpelt“, Flöckchen fliegen, Glöckchen klingen, das Christkind tritt auf, also viel Harmonie und manchmal auch Edelkitsch. „Markt und Straßen stehn verlassen …“ von Eichendorff ist da z.B. schon eine sehr rühmliche Ausnahme.


Andere Ausnahmen waren wohl meinen Lehrern eher suspekt, vielleicht auch schlicht unbekannt. Ich habe sie erst später kennen gelernt und freue mich heute z.B. an dem zart spöttischen Unterton von „Altmeister“ Goethe, der mit dem Thema der drei heiligen Könige spielt:


Epiphaniasfest


Die heiligen drei Kön´ge mit ihrem Stern,

sie essen, sie trinken und bezahlen nicht gern;

sie essen gern, sie trinken gern,

sie essen, sie trinken und bezahlen nicht gern.


Die heiligen drei Kön´ge, sie kommen allhier,

es sind ihrer drei und nicht ihrer vier,

und wenn zu drein der vierte wär,

so wär ein heiliger drei König mehr.


Ich erster bin der weiß und auch der schön,

bei Tage solltet ihr mich erst sehn!

Doch ach, mit allen Spezerein

Werd ich mein Tag kein Mädchen mehr erfreun.


Ich aber bin der braun und bin der lang,

bekannt bei Weibern wohl und bei Gesang;

ich bringe Gold statt Spezerein,

da werd ich überall willkommen sein.


Ich endlich bin der schwarz und bin der klein

Und mag auch wohl einmal recht lustig sein.

Ich esse gern, ich trinke gern,

ich esse, trinke und bedanke mich gern.


Die heiligen drei König sind wohlgesinnt,

sie suchen die Mutter und das Kind;

der Joseph fromm sitzt auch dabei,

der Ochs und Esel liegen auf der Streu.


Wir bringen Myrrhen, wir bringen Gold,

dem Weihrauch sind die Damen hold,

und haben wir Wein von gutem Gewächs,

so trinken wir drei so gut wie ihrer sechs.


Da wir hier nun schöne Herrn und Fraun,

aber keine Ochs und Esel schaun,

so sind wir nicht am rechten Ort

und ziehen unseres Weges weiter fort.


GOETHE


Gefunden in: Das Weihnachtsbuch. Mit alten und neuen Geschichten, Gedichten und Liedern. Ausgewählt von Elisabeth Borchers. – Frankfurt am Main: Insel-Vlg. 1973. (= insel tb. 46). Darin S. 115-116.

Freitag, 12. Dezember 2008

Freude am Schreiben

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Ich möchte noch einmal auf meinen gestrigen blog eingehen und ihn etwas ergänzen. Am besten gelingen mir meine Eintragungen mit der folgenden Einstellung: Ich schreibe für mich, lade jeden, der Lust dazu hat, zum Lesen ein, aber ganz ohne Sendungsbewußtsein und ohne Erfolgsdruck. Niemand muss mich dafür loben, denn das Schreiben ist für mich Selbstzweck, weil ich durch die Freude, die es mir bereitet, bereits hinreichend belohnt bin. Das schenkt mir viel Unabhängigkeit. Im Internet gibt es sehr viele kluge Seiten, allerdings auch wohl noch viel mehr "Schrott", wie es nach meiner Erinnerung der verstorbene Informatiker Weizenbaum einmal ausgedrückt hat. Möge durch meine Beiträge ein Gran mehr an Geistvollem darin enthalten sein!

Donnerstag, 11. Dezember 2008

Themen, Themen, Themen ... In eigener Sache

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In den vergangenen Wochen bin ich mit meinen Vorhaben für diesen blog etwas „unter die Räder“ geraten: durch viele Ereignisse, Reisen und eine Krankheit gelang mir nicht mein innerer Plan, weil neue Eindrücke die von mir beabsichtigten, aber noch nicht „abgearbeiteten“ älteren Themen überlagerten. Resultat: Ich habe dann gar nichts geschrieben. Eigentlich schade! Wenn ich nämlich erst einmal am Computer sitze und Texte formuliere, geht es mir ausgesprochen gut, im günstigsten Falle „fließt etwas aus mir heraus“ und ich spüre mich selbst dabei. Vielleicht ein ähnliches Gefühl, wie es andere Menschen z.B. beim Malen oder anderen kreativen Tätigkeiten empfinden.


Um diese guten Gefühle möchte ich mich zukünftig nicht mehr durch eigenen Erwartungsdruck bringen, auch wenn dann einmal ein schönes Thema der vorangeschrittenen Zeit zum Opfer fallen sollte. So reizt mich z.B. manchmal ein Zeitungsartikel zum Widerspruch heraus und ich würde gerne einen Leserbrief schreiben. Wenn ich das aber nicht sofort tue (wofür selbst ich in meiner Alterteilszeit nicht immer die Zeit habe – manche Formulierungen müssen aber auch erst einmal ein paar Tage „schmoren“), ist beim Erinnern daran oft soviel Zeit verstrichen, dass ein Leserbrief keine reale Chance auf Veröffentlichung mehr hätte. Aber so ist es nun einmal und ich bin offenbar kein Schreiber brandaktueller Inhalte.

Samstag, 6. Dezember 2008

Meine Lieblingszitate VIII

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Ich kenne so viele Menschen mit Fernweh. Immer weiter weg müssen die Reisen gehen, immer fremder sollen die aufgesuchten Kulturen sein. So als könnte man in wenigen Tagen seinen Horizont nachhaltig erweitern (von der CO²-Belastung der Umwelt beim Fliegen ganz zu schweigen). Mich zieht es hingegen immer mehr in meine direkte Umgebung, meine neue und (von meinen Vorfahren her auch) alte Heimat. Eine besondere Vorliebe habe ich dabei für das Oderbruch.

Vorbild für mich ist bei diesen heimatlichen Erkundungen Günter de Bruyn, der wunderbare stille Beschreibungen über Ostbrandenburg verfasst hat.


Auch Dörfer und Städte,
Kirchen und stille Winkel,
alte Eichen und Feldraine sind Dinge,
die irgendwie zu uns gehören,
und wenn wir sie nicht nur hinnehmen,
sondern genau wahrnehmen,
nicht nur wissen wie sie sind,
sondern auch wie sie wurden,
wissen wir auch mehr über uns selbst.

Günter de Bruyn

Quelle: Im Kap. "Im Spreeland" in: Zwischen Oder und Spree. Unterwegs in Frankfurt (Oder), Märkisch-Oderland und dem Oder-Spree-Kreis. 2.Aufl.- Neuenhagen: Findling 2006.

Freitag, 5. Dezember 2008

Mein Motto für den Monat Dezember 2008


Das heutige Zitat ist für mich wie ein Weihnachtsgruß. Ein wahres Weihnachtsgeschenk hingegen wäre es, wenn sich die Welt tatsächlich in diese Richtung hin verändern würde:


Wir brauchen ein Umsteuern zu einer Politik, in der Gerechtigkeit und Solidarität nicht als verstaubte Sozialromantik abgetan werden, sondern die Grundlage unserer Gesellschaft und des politischen Handelns sind.


Frank Bsirske


Dies sind die Schlussworte eines Artikels von Frank Bsirske aus ver.di publik 11/2008. Unter dem Titel „Die Richtung ändern“ analysiert er die Lage in Deutschland nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte und fordert, dass es kein „weiter so“ mehr geben dürfe, nachdem die gesamte Bevölkerung für den Ausgleich der Kosten zur Kasse gebeten worden sei. („Aufgebürdet“ wäre vielleicht ein besserer Ausdruck.)


Seine Analysen und Schlussfolgerungen kann ich gut nachvollziehen. Nur an einer Stelle scheint er mir zu optimistisch zu sein: Er erklärt nämlich den Neoliberalismus für bankrott. Da wir alle für seine Pleite zahlen sollen, stimmt das schon irgendwie. Wenn ich aber an all die vielen Ideologen, Nutznießer, Unterstützer und Mitläufer in Politik, Wirtschaft, Medien und einschlägigen Wissenschaften denke, so vermute ich, dass viele z.Zt. zwar „ihre Wunden lecken“ und vielleicht vorsichtshalber stiller als sonst sind, jedoch nur auf ihre Chancen warten, bei nächster Gelegenheit wieder den Führungsanspruch stellen zu können. Bisher werden sie sich der Unterstützung seitens unserer Regierung sehr sicher sein, was allein schon die Dimensionen der Hilfsleistungen verdeutlicht: 480 Milliarden Euro garantierte Hilfen für Banken gegenüber knapp 15 Milliarden Investitionen in die Realwirtschaft, um die Konjunktur zu stützen und die Verdienstmöglichkeiten der breiten Bevölkerung abzusichern.