Freitag, 10. November 2017

Interview mit Juli Zeh

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In der neuesten Ausgabe des STERN (46/17 v. 9.11.2017) interviewt Oliver Creutz Juli Zeh unter dem Titel: "Das STERN-Gespräch: 'Ich bin jetzt nicht direkt für den Molotowcocktail'. Deutschland in zehn Jahren: Rechtspopulisten sind an der Macht, viele Menschen nehmen sich das Leben.  Die Schriftstellerin Juli Zeh über ihre politische Wut, die sie zu ihrem neuen Roman 'Leere Herzen' trieb".

Viele Passagen in diesem Gespräch drücken ein Lebensgefühl aus, das meinem eigenen sehr ähnlich ist, nur dass Juli Zeh im Gegensatz zu mir in der Lage ist, dies auch zu formulieren. Ich zitierte die mir wichtigsten Passagen:

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Sie fragten nach der Wahl außerdem: "Wie gut muss es einem Land eigentlich noch gehen, damit die Menschen sich nicht mehr von fremdenfeindlichen Szenarien aufhetzen lassen?"

Lange Zeit hieß es: Die Leute, die sich rechtsextremen Ideen anschließen, das sind die Abgehängten in der Gesellschaft, das sind die sozial Schwachen, die fühlen sich benachteiligt, gedemütigt. Aus diesem Gefühl heraus entwickeln sie Aggressionen gegen Minderheiten, und deshalb wählen sie rechts. Doch diese Analyse stimmt nicht. Die Wähler der AfD sind weder besonders ungebildet noch benachteiligt. Damit bricht etwas zusammen, das mir total wichtig ist: der Glaube an einen zivilisatorischen Fortschritt.
[...]

Warum wählen Menschen rechts?

Zum einen aus Politikverachtung. Da heißt es: Die Politiker sind alle Idioten oder Verbrecher. Zum Zweiten aus 'Demokratieverachtung. Viele Leute verstehen nicht, wozu es bestimmte Artikel im Grundgesetz gibt. Braucht man die wirklich? Wieso haben wir Religionsfreiheit, wenn der Islam doch so terroristische Auswüchse hat?

Warum regen Sie sich über politische Entwicklungen so sehr auf, dass Ihnen schlecht wird?

Ich hab die Politik wohl verinnerlicht, sie liegt mir im Magen. Meine Generation ist in einer Phase aufgewachsen, in der es tatsächlich so aussah, als könne alles immer besser werden. So waren die Neunziger: Erziehung, Aufklärung, Internationalisierung, die Welt so weit öffnen, dass man nicht mehr fremdenfeindlich sein muss, weil man gesehen  hat, dass die Menschen so unterschiedlich nicht sind. Dass selbst die Religionen sich ähneln. Dass wir uns alle mal abregen können. Und dann kommt das Millennium, und eine Sache nach der anderen fährt vor die Wand, zuletzt der Brexit, dann Trump, jetzt die AfD. Das sind für mich persönliche Erschütterungen.

Erstarren Sie, oder sind Sie aufgebracht?

In den vergangenen zwei Jahren ist die Erstarrung fast schon zum Dauerzustand geworden. Ich bin wütend, aber kann es nicht mehr richtig äußern. Alle sagen: Jetzt muss man aufstehen und sich äußern! Das stimmt schon. Ich vertrete meinen Standpunkt, wo ich kann, auch im Privaten. Aber wenn ich zum Thema AfD oder Trump etwas sagen wollte - es wäre wieder nur die gleiche Sonntagsrede.
[...] 

Wehe, wenn sie losgelassen ...

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Beim Aufräumen habe ich in meinen Unterlagen eine Reihe von Zetteln gefunden, auf die ich einmal Ideen für einen Beitrag auf meinem blog notiert hatte. Was ich davon aufhebenswert finde, werde ich von Zeit zu Zeit hier veröffentlichen, so wie heute bereits die "Milchmädchenrechnung". Der folgende Gedanke stammt aus dem April 2015.

 Wehe, wenn sie losgelassen - oder: Was Germanen und IS gemeinsam haben

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Die Germanen, immerhin ganz wesentliche Ahnväter unserer heutigen europäischen Kultur, haben in der Völkerwanderung rücksichtslos große Teile der römischen Hochkultur zerstört. Das macht der IS jetzt wieder im Irak und Syrien, und zwar mit bilderstürmender Absicht. Ob das beim Zerstörungswerk der Germanen auch dahinter stand oder sie einfach nur von ihrer mangelnden Bildung her unfähig waren, die Errungenschaften der Römer zu nutzen und zu pflegen, weiß ich nicht, spielt ja auch vom Ergebnis her keine Rolle. Beides ist eine große Dummheit, weil es die Menschheit ihres kulturellen Erbes beraubt bzw. im Falle der Germanen die kulturelle Entwicklung um Jahrhunderte zurück"gebombt" hat.    

Eine Milchmädchenrechnung?

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Vor drei Jahren habe ich den folgenden leicht satirischen Text geschrieben, dann vergessen  und ihn jetzt wiedergefunden. Mir gefällt er noch immer, deshalb veröffentliche ich ihn heute in meinen blog:

Eine Milchmädchenrechnung - oder: wie meine Überlegungen nur knapp die Nominierung für den Alternativen Nobelpreis verfehlten

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Ich bin kein besonders guter Ökonom. Aber einige Zusammenhänge erfasse ich doch. So weiß ich, was unter "Bruttosozialprodukt" zu verstehen ist, nämlich die Gesamtzahl aller Leistungen - materiell oder informell an Dienstleistungen - die ein Land in einem Jahr erwirtschaftet.

Da heißt es überall und jedes Jahr aufs Neue, die erwirtschaftete Summe reiche nicht aus, um alle Begehrlichkeiten zu befriedigen - weltweit: den Hunger zu beseitigen, Armut nachhaltig zu bekämpfen, die Bildung überall zu verbessern, die Segnungen des Gesundheitssystems allen zugänglich zu machen, der Verschmutzung der Umwelt nicht mehr tatenlos zuzuschauen, den Klimawandel zu bremsen und neue Energiequellen zu erschließen. Und zumindestens für Deutschland: wie wir unsere Infrastruktur vor weiterem Zerfall bewahren und Brücken, Straßen und Gleisanlagen sanieren könnten.

Und ich behaupte schlicht und ergreifend, dass für alle diese Maßnahmen weltweit genug Geld da ist und es auch nicht am Personal zur Umsetzung der Maßnahmen fehlt. Wenn ausnahmslos alle Staaten eine Konvention unterzeichnen würden, ihr Militär aufzulösen, alle Konfliktparteien ihre Kämpfe einstellten, würden ungeheure Geldsummen frei und die Vernichtung von Menschenleben und Kulturgütern gestoppt.

Gut, aus einem Soldaten wird nicht innerhalb von Tagen ein Entwicklungshelfer, ein Facharbeiter für erneuerbare Energien oder ein Sozialarbeiter, aber Menschen lassen sich umschulen. Und: Rüstungsbetriebe brauchen auch etwas Zeit, um ihre Produktion auf menschenfreundlichere Gerätschaften umzustellen, aber das ist in Deutschland z.B. nach dem II. Weltkrieg auch geglückt (Kochtöpfe statt Stahlhelme ...) und ginge sicherlich weltweit, wenn man entsprechende Zeiträume einkalkulierte.

Aber was hilfts, ich bin und bleibe ein Spinner, die Welt schert sich nicht um meine Milchmädchenrechnung und geht lieber vor die Hunde ... Ich beneide nicht die Generationen, die nach uns kommen und die Suppe auslöffeln müssen, die ihre uneinsichtigen Vorfahren haben anbrennen lassen.

Mittwoch, 8. November 2017

Ist der Fanatismus des IS uns wirklich so fremd?

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Die Schreckenstaten des IS und der in seinem Namen Massaker begehenden Selbstmordattentäter erschrecken uns zutiefst und bleiben uns unverständlich. Wer aus unserem Kulturkreis würde sein Leben so leichtfertig wegwerfen  und so barbarisch unter Menschen wüten, die er gar nicht kennt?

So dachte ich bisher; bei einer der so beliebten Befragungen würde sich sicher der überwiegende Teil der Bevölkerung dieser Meinung anschließen.

Und doch ist diese Meinung geschönt und unehrlich, wie mir kürzlich bei einem Besuch in Vielitz-Seebeck in der Nähe von Neuruppin deutlich wurde. Die Täter, von denen ich dort erfuhr, begingen zwar keine Selbstmordattentate, aber sie wüteten nicht weniger barbararisch und vor allem auch ebenso völlig sinnlos wie jetzt die Leute vom IS. Es gibt dort nämlich eine Gedenktafel vom Todesmarsch der Häftlinge aus dem geräumten KZ Sachsenhausen im April 1945, verbrochen von Angehörigen der Lagerwache der SS. Im selben Monat, am 30.4.1945, sollte dann ihr "Gott" Adolf Hitler Selbstmord begehen und alle, die bis dahin bedingungslos auf ihn gehört hatten, im Stich lassen.

Wo bleibt da die sittliche Überlegenheit unseres christlichen Kulturkreises? Ich sehe darin höchstens den Auftrag an uns alle, uns für die Untaten unserer Vorfahren aktiv zu schämen, uns nicht erhaben über andere zu fühlen und stets wachsam dafür zu bleiben, dass sich nicht wieder Idioten in unseren Landen erheben, die für irgendeine irrationale Macht entsetzliche Taten vollbringen. Menschen möglich scheint das ja leider zu sein, wie die Gegenwart an vielen Orten der Welt zeigt.


Tröstungen

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Es gilt allgemein als gute soziale Eigenschaft, wenn jemand einen anderen trösten will, um ihm zu helfen und ihm damit über eine schwierige Situation hinwegzuhelfen.

Ich erlebe z.Zt. allerdings auch oft ein "Trösten" mit einer anderen Funktion: Mein Gedächtnis ist sehr schlecht geworden, und - um Offenheit bemüht - gebe ich das dann auch offen zu, manchmal ärgere ich mich auch ganz einfach nur über mich selbst, klage und möchte mir dadurch etwas Luft verschaffen. Die häufigste Reaktion von Gleichaltrigen, oft auch von Jüngeren, ist dann: "Mach dir nichts draus, was ist schon dabei, das habe ich auch häufiger." Gelegentlich folgt dann auch noch ein ausführliches  Gegenbeispiel meines Gegenübers. Und ich fühle mich mehr oder weniger "abgebürstet" und "stehe im Regen",  denn meine Botschaft, dass ich böse über mich selbst bin oder verunsichert  über meinen Geisteszustand ("Alzheimer" lässt grüßen!), ist damit ad acta gelegt, mein Gegenüber möchte offensichtlich nichts mehr davon hören und mir bleibt dadurch keine Gelegenheit, im Gespräch etwas über mich nachzudenken und meine negativen Gefühle zu verarbeiten. Ein wirkliches Trösten wäre gewesen, wenn mir mein Gegenüber ein wenig zugehört hätte und ich meine Gefühle und Sorgen hätte darstellen können. Aber das ist wahrscheinlich gar nicht so leicht auszuhalten und die beschriebene Form die einfachere Variante.

Das war das Thema mit meinem Gedächtnis. Es gibt aber noch gute andere Beispiele: Ein häufiges in der Kindheit unseres behinderten Sohnes war, dass auf von uns Eltern geäußerte Ängste und Sorgen hin ganz oft die Reaktion folgte: "Wartet doch ab, der Junge ist doch noch so klein,  vielleicht gibt sich das doch noch, er hat doch noch viel Zeit für seine Entwicklung. Bei manchen Kindern dauert das eben etwas länger." Nach einer solchen Antwort blieben uns dann unsere unglücklichen Gefühle auch im Halse stecken, denn unser Gegenüber hatte gerade signalisiert, dass er so etwas (Anstrengendes!!) nicht hören wollte, schon gar nicht unsere Gefühle aushalten.

"Trost" ist also nicht in jedem Falle Trost, wenn man sich die Situation genauer anguckt.