Samstag, 8. August 2020

Die psychische Langzeitwirkung des II. Weltkriegs

In meiner Studentenzeit in den 70er Jahren waren  Traumata kaum ein Thema. Ich las allerdings über die Alpträume von Holocaust-Opfern. Später wurde über traumatisierte US-Soldaten aus Vietnam berichtet. Danach löste sich der Bann und auch über die ungeheuren Leiden der deutschen Zivilbevölkerung im II. Weltkrieg gab es nun Berichte und Analysen.

Im gleichen Sinn werden heute auch die Leiden der Menschen in früheren und anderen Kriegen und in Katastrophenzeiten als Trauma anerkannt.

Eine wirkliche Bearbeitung scheint aber nur zeitversetzt möglich zu sein, weil die zunächst Betroffenen nur zu oft ins Schweigen verfallen sind.

Im Hinblick auf den II. Weltkrieg gibt es nun mittlerweile eine größere Reihe von Büchern, die sich Kriegseltern, -kinder und -enkeln widmen und deutlich machen, dass nicht bearbeitete Auswirkungen der Kriegsereignisse in ihrer prägenden Kraft noch Generationen später wirksam sein können.

Einen dieser Titel möchte ich jetzt vorstellen:

Matthias Lohre: Das Erbe der Kriegsenkel.  Was das Schweigen der Eltern mit uns macht. - München: Penguin 2018. (1. Ausgabe Gütersloh 2016).

In einer sehr persönlichen Weise, in der Lohre seine Familie darstellt, seine Spurensuche bei der Erforschung der Familiengeschichte und sein eigenes Erleben, verbunden mit den Erkenntnissen aus einer eigenen Psychoanalyse, zeigt der Autor exemplarisch die Auswirkungen der Kriegszeit über die Generationen hin  bis heute, gestützt von einer fundierten Wiedergabe einschlägiger Fachliteratur. Und zeigt auch seinen persönlichen Weg, den "Nebel" der Familienatmosphäre, unausgesprochene aber sehr wirksame Erwartungen der Eltern und einen Leistungsethos, in dem alles bei ihm gipfelte, zu erkennen und gegenzusteuern. ("Überwinden" halte ich für einen Euphemismus, solche tiefen Spuren dürften Lebensschicksal bleiben.)

Diese Analyse erweitert für mich den Hintergrund, auf dem ich noch einmal über meine eigene Kindheit als Flüchtlingskind (Jahrgang 1947) nachdenken kann und meine Eltern und meine Familie in einem erweiterten Licht sehe: meinen schweigsamen Vater und meine emotional wahrscheinlich sehr überforderte, ängstliche Mutter, die mir immer die Botschaft vermittelte, als "Sonnenscheinchen" der Familie doch bitte keine weiteren Probleme hinzuzufügen. Dazu der Heimatverlust meiner Eltern, die nie in Schleswig-Holstein wirklich heimisch wurden, so dass ich mich dort in meiner Kindheit ebenfalls immer etwas fremd gefühlt habe - bis ich nach der Wende jetzt in Brandenburg lebe, der Herkunftsgegend meiner Sippe, und erstmalig in meinem Leben nach vielen Umzügen das Gefühl habe, heimisch geworden zu sein.

Mein Dank an Matthias Lohre und die Offenheit in seinem Buch!


Ich sehe allerdings auch ein Problem: Lohre leitet seine Lebensproblme fast monokausal aus dieser Kriegs-Eltern-Problematik her. Ich denke, dass es da eine größere Zahl weiterer Ansätze / Bezugsgrößen gibt, wie ich sie über viele Jahre in verschiedenen Formen von Psychotherapie praktisch und theoretisch sehen und erleben konnte. Alles, was ich über Matthias Lohre erfahren und nacherleben konnte, ist aber ein wesentlicher erhellender Baustein, der mein Bild von mir und meinem Werden vervollständigt.

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Nachsatz zum Phänomen des Schweigens:

Offenbar ist die jeweils von derartigen Ereignissen/Umwälzungen direkt betroffene Generation noch nicht bereit oder fähig, ihre Erlebnisse in Offenheit zu verarbeiten. Und ihre Nachfolger/innen haben das zu "verdauen". Ob es nicht vielleicht mit weniger kriegerischen aber doch umgreifenden Umwälzungen, die das bisherige Leben umkrempeln, ähnlich sein wird? Ich denke an die Langzeitwirkungen der friedlichen Revolution von 1989. Die Kinder und Enkel dieser Zeitenwende werden auch daran "zu verdauen" haben, nicht nur die damals Erwachsenen, über deren Erleben bisher nicht sonderlich viel zu hören ist. Vielleicht gibt es darüber später auch einmal Literatur - von den Kindern und Enkeln!