Mittwoch, 28. Januar 2009

"in meiner Kindheit wussten sich die Jugendlichen noch zu benehmen ..."

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So oder ähnlich habe ich meine Eltern – in meiner Kindheit! – noch im Ohr, wenn sie sich über Jugendliche beklagten, die sie frech und aufmüpfig oder von ihrem Verhalten her einfach unverständlich fanden. Mir kam das Urteil damals schon etwas ungerecht vor, obwohl ich zu den „Braven“ zählte, die Derartiges nicht taten, weil sie entweder ihren Eltern gefallen wollten, sich nicht recht trauten oder durch ihre wie auch immer beschaffene Andersartigkeit nur wenig Gemeinsames mit den Geflogenheiten der gerade aktuellen Jugendkultur hatten.

In den letzten Jahren habe ich mich nun dabei ertappt, dass mir manchmal ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen sind. Peinlich? Oder einfach altersbedingt? Zum Glück bin ich über viele Jahre darin trainiert, dass mir so etwas wenigstens auffällt und ich es reflektieren kann. Ich habe zwei Quellen gefunden, die mir beim Nachdenken geholfen haben. Allen, die Ähnliches auch schon erlebt haben – oder denen es noch bevorsteht! – dies zur Anregung:

In meiner Schulzeit haben wir noch Theodor Storm gelesen. Mir gefiel, eher im Gegensatz zu meinen Mitschülern, „Pole Poppenspäler“, den Storm 1874 veröffentlichte. Mich rührte damals die zarte Liebesgeschichte sehr an. Die auch vorhandenen sozialkritischen Untertöne (Storm war ja kein Biedermeier-Dichter mehr!) habe ich seinerzeit noch nicht gesehen, auch nicht den bemerkenswerten Schritt in dieser Novelle, dass der junge Held sich nicht von Standesgrenzen abhalten lässt, seine Liebe zu heiraten, ein Mädchen „vom fahrenden Volk“, denn ihr Vater zieht mit einer Marionettenbühne von Ort zu Ort. Heute könnte man dies auch als Beitrag für das Thema „Integration“ und „Kampf gegen Vorurteile“ verstehen.

Aber schon damals habe ich begriffen, dass „Kindheit“ nichts Statisches ist, sondern die Zeitumstände, also die aktuellen Lebensbedingungen, widerspiegelt, wie sie Storm in seiner Novelle verarbeitet: Während der Erzähler der Geschichte als Kind fasziniert von den Aufführungen der Marionettenbühne ist, sind die Jugendlichen Jahre später, von Kriegsereignissen in der Zwischenzeit geprägt, völlig abgeneigt und machen sich über „so etwas Kindisches“ lustig und treiben damit den alten Puppenspieler, dem Spott preisgegeben, in die Depression. Er lebt nicht mehr lange.

In meiner Erinnerung war dies ein Kernpunkt der Erzählung. Ich habe es mir immer so gemerkt, dass bereits vor über 100 Jahren über „die Jugend von heute“ geklagt wurde, also offensichtlich ein eher zeitloses Phänomen, das mit den jeweils aktuell lebenden Jugendlichen gar nicht so viel zu tun hat, sondern mit dem Verhältnis der Generationen. Um so überraschter war ich, als ich zur Vorbereitung dieses blog-Eintrags bei Storm noch einmal nachgelesen habe, denn er beschränkt sich bei der allgemeinen Beschreibung der Situation eher beiläufig auf ganz wenige, allgemein gehaltene Aussagen, die auch Verständnis für die „neue Generation“ ahnen lassen:

Es war aber damals in unserer Stadt nicht mehr die harmlose schaulustige Jugend aus meinen Kinderjahren; die Zeiten des Kosakenwinters lagen dazwischen, und namentlich war unter den Handwerkslehrlingen eine arge Zügellosigkeit eingerissen; die früheren Liebhaber [des Marionettentheaters, J.L.] unter den Honoratioren aber hatten ihre Gedanken jetzt auf andere Dinge. (Zitat S. 63 – 64)

Das ist also mein erster Gewährsmann!

Ein zweiter Autor, jetzt einer meiner eigenen Altersklasse, hat mich dann beim Lesen vor einigen Jahren verunsichert, ich fühlte mich von ihm „ertappt“! Es handelt sich um den Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer, der psychologische Hintergründe des Erlebens älterer Menschen in seinem Buch „Altern ohne Angst“ vorstellt.

Zwar im üblichen Psychoanalytiker-Jargon, aber doch sehr einfühlsam, beschreibt er dort:

Es ist nicht leicht, die Bewegungs-Grandiosität der Jugend zu ertragen, wenn man sich selbst von ihr verabschieden musste. Ein Thema erbitterter Diskussionen sind zum Beispiel die Radfahrer (meist jung) in den Fußgängerzonen; auch hier wird den beweglichen Jungen eine Aggressivität unterstellt („Radel-Rambos“), die in Wahrheit den Alten eignet, die sich von der schnellen, raumgreifenden Bewegung vor allem deshalb bedroht fühlen, weil sie auf die Täter mit neidischer Wut reagieren.

Lärm ist Bewegung; Schallwellen sind Bewegungen der Luft. Auch Lärm beherrschen junge Leute weit besser als alte, sie können sich an ihm vorbei konzentrieren, sie produzieren ihn hemmungsloser und spinnen sich in ihren eigenen (Musik-)Lärm ein wie in einen Kokon. (Zitat S. 51)

Kommentar überflüssig!

Die Quellen meiner Zitate sind:

Für Theodor Storm (1817 – 1888) und seine 1874 erschienene Erzählung/Novelle:

Theodor Storm. Pole Poppenspäler. Novelle. – Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2002.
(= Reclams Universal-Bibliothek 6013). S. 63 – 64.

Für Wolfgang Schmidbauer (geb.1941):

Wolfgang Schmidbauer: Altern ohne Angst. Ein psychologischer Begleiter. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Tb.Vlg. 2003. (= rororo 61474). S. 51.

Montag, 26. Januar 2009

Meine Lieblingszitate XII

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Der folgende Ausspruch begleitet mich schon seit vielen Jahren als morgendliche Begrüßung. Ohne ihn fehlt mir sonst etwas. Mein Gedächtnis wird langsam "löchrig", nur wenige Gedichte und andere Zitate gelingen mir auswendig, aber dieses hier "sitzt"!

Sei dir jedes Tages bewusst,
denn er ist das Leben,
das Leben allen Lebens.
In seinem kurzen Ablauf
liegt die ganze Wirklichkeit und Wahrheit
des Daseins,
die Wonne des Wachsens,
der Ruhm der Tat,
die Herrlichkeit der Kraft.

Denn das Gestern ist nur ein Traum
und das Morgen eine Vision.
Das Heute aber - richtig gelebt -
macht das Gestern zu einem Traum voller Glück
und das Morgen zu einer Vision der Hoffnung.

Deshalb sei dir jedes Tages bewusst!

Aus dem SANSKRIT


Für mich bedeutet das:
Jeder Tag ist einmalig und dadurch
- eine neue Verheißung
- eine neue Chance
- eine neue Aufgabe und alles in allem
- ein neues Geschenk des Lebens an mich!

In depressiver geprägten Stimmungslagen habe ich eher das Bedrückende und die immer wiederkehrende tägliche Last gesehen. Diese Aussage aber macht Mut, allmählich Altes abzuschütteln und Neues zu wagen! Wie sollte sonst auch Besseres in der Welt entstehen!

Ich verdanke diesen Spruch einem Meditationsbuch der Anonymen Alkoholiker:
24 Stunden am Tag. Hazelden Meditationsbücher. – München: Wilhelm Heyne Vlg. 1990. Motto.

Sonntag, 25. Januar 2009

Lese-Tipp: Eine besondere Geschichte der deutschen Literatur von Manfred Mai

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Als ich mit meiner Frau Annegret im letzten Herbst einen Kurzurlaub in Weimar machen konnte, waren wir „klassischen Gedanken“ und deutscher Literatur gegenüber natürlich sehr aufgeschlossen (zu unserer Ehrenrettung möchte ich anfügen: auch zu anderen Zeiten, die allerdings oft von ganz anderen Themen überlagert werden!). Beim Schmökern in einer Buchhandlung fiel mir dort das folgende Buch in die Hände:


Geschichte der deutschen Literatur erzählt von Manfred Mai. – Weinheim und Basel: Beltz & Gelberg 2004. (= Gulliver 5525).


Ein „Gulliver“- Band von einem bekannten deutschen Jugendbuchautor aus einem renommierten Kinder- und Jugendbuchverlag! „Eigentlich“ nichts für Erwachsene?! Doch das empfinde ich (zumindest bezogen auf meine Person) als ein Vorurteil. Ich habe bereits von einer Reihe Sachbücher für Kinder und Jugendliche profitiert, weil manchmal in ihnen komplizierte Sachverhalte so einfach und didaktisch geschickt dargestellt wurden, dass sie auch mir (manchmal erstmalig) verständlich wurden. Wer sein Metier beherrscht, kann es auch verständlich „unters Volk“ bringen! Kinder und Jugendliche lassen sich (noch) nicht von eher unverständlichem Wortgeklüngel beeindrucken und einlullen.


So geschickt geht hier auch Manfred Mai vor. Er gibt einen Überblick über deutsche Literatur und ihre Vorläufer aus der noch vorliterarischen Welt der Germanen bis zur heutigen Zeit, wählt zur Illustration der jeweiligen Epochen einige wenige Vertreter aus, von denen er Werke vorstellt ,insbesondere die Zeitumstände lebendig werden lässt und die sozialen Ideen, die in den Werken anklingen (oder ihr Fehlen und dessen Gründe, z.B. bei Verfassern des Biedermeier). Offensichtlich ist er besonders bei der Analyse der sozialen Wirklichkeit hoch engagiert, so wie viele der Schriftsteller und Schriftstellerinnen ebenso das Schreiben als Möglichkeit genutzt haben, ihre politischen/gesellschaftlichen Stellungnahmen „unters Volk zu bringen“. Also eine Literaturbetrachtung stärker von ihrer Wirkungsgeschichte her als von einer mehr ästhetischen Seite (ohne sie zu vergessen)! Ein mir sehr sympathischer Ansatz!


Ich habe das Buch „fast in einem Rutsch“ durchgelesen, was bei mir sehr selten vorkommt, habe dabei alte Kenntnisse aufgefrischt und war neugierig, wie der Verfasser frühere Lieblingsautoren von mir unter seinem speziellen Blickwinkel einordnet. Da ich mich in den letzten – längeren … - Jahren nur wenig mit Literatur beschäftigt habe, dementsprechend wenige neuere Bücher kenne, war es für mich auch eine Kurzeinführung in die Gegenwartsliteratur, die ich bei meinem Nachholbedarf höchst spannend fand. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass Manfred Mai bei der Literatur nach der Wende allmählich auch etwas „die Puste ausgeht“, sei es, dass das Bedeutsame der Gegenwart ohne zeitlichen Abstand immer nur sehr schwer zu erkennen ist – oder aber dass das eher Belanglose und Fremde „der jungen Leute“ der letzten Jahre auch für den Verfasser nur schwer zu verdauen ist. Es fehlen einfach soziale Ideen und individuelle Verantwortlichkeit in den dargestellten Texten, es wird eher dargestellt, wie es Menschen ohne derartige Werte geht. Für mich irgendwie kalt und fremd und erschreckend, wenn dies das Lebensgefühl junger Menschen heute sein soll.


Insgesamt: Ein tolles Buch! Sehr empfehlenswert! Nicht nur für Jugendliche!

Samstag, 24. Januar 2009

Meine Lieblingszitate XI

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Dieses berühmte Gedicht von Heinrich Heine führt Manfred Mai, von dessen „Geschichte der deutschen Literatur“ ich noch berichten werde, als Beispiel für die „ganz neuen Töne“ in der deutschen Literatur der Nach-Romantik-Phase im 19.Jahrhundert auf. Da ich es sehr schätze, nehme ich diesen Fund in die Reihe „meiner Lieblingszitate“ auf!

Seinerzeit waren diese Gedanken sehr riskant, „aufrührerisch“, Heine musste bekanntlich emigrieren. Vielleicht würde er heute hingegen als „naiv“ belächelt, vielleicht auch als “Populist“ geschmäht, jemand, der trotz aller geschichtlichen Erfahrungen nicht von seinen „linken Gedanken“ Abschied nehmen wolle. Aber was stört mich das: Ich finde dieses 160 Jahre alte Gedicht immer noch sehr erfrischend, aufregend und von seinen Visionen her auch immer noch sehr modern! („Leider“, muss man fast sagen, denn das Erreichen seiner Ziele scheint ferner denn je…)


Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.

HEINRICH HEINE
(in: Deutschland. Ein Wintermärchen)

Gefunden in: Geschichte der deutschen Literatur erzählt von Manfred Mai. – Weinheim u. Basel: Beltz & Gelberg 2004. (= Gulliver 5525). S.93.

Meine Lieblingszitate X

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Noch ein weiteres Juwel aus meiner Sammlung!


Die Sterne,

die begehrt man nicht,

man freut sich ihrer Pracht.


JOHANN WOLFGANG VON GOETHE



Meine Quelle ist vielleicht ungewöhnlich, aber mir ist das Zitat nur an dieser Stelle begegnet:

Gefunden im Ausstellungskatalog zur Bundesgartenschau in Berlin 1985, S. 154!

Freitag, 23. Januar 2009

Meine Lieblingszitate IX

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Bei all den „schweren Themen“ der letzten Zeit habe ich es lange versäumt, meine Sammlung von Lieblingszitaten fortzusetzen. Dabei haben sie für mich (vielleicht auch für andere!?) eine nicht unerhebliche psychohygienische Wirkung: Brillant formuliert, mit viel Geist und oft auch Witz erweitern sie nicht nur meine Kenntnisse, sondern heben beim Lesen auch deutlich meine Stimmung. Das mag an der schönen Sprache liegen, manchmal an den positiven Anregungen und häufig auch an meiner Freude, dass größere Geister vor mir schon diese Eingebungen hatten, mit denen ich mich jetzt teilweise identifizieren kann bzw. mich über ein Wiedererkennen freue, wenn ich Ähnliches auch schon einmal gedacht habe. Welch eine Bestätigung! Manchmal sind sie auch einfach nur tröstlich und zeigen, wie menschlich und damit durchschnittlich die in ihnen geschilderten Probleme, Schicksale und Gefühle sind.

Im Rahmen meiner früheren Ausbildung und Selbsterfahrung im Bereich der Tiefenpsychologie/Individualpsychologie war es immer wieder ein Erlebnis für mich zu lesen, welche Geistesgrößen schon früher wichtige Erfahrungen über die Möglichkeiten der Selbsterkenntnis und der allgemeinen Menschenkenntnis mitgeteilt hatten. Wie viel „blutvoller“ sind diese Schilderungen oft als die trockenen und abgehobenen Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Psychologie, in der ich ausgebildet worden bin! Vieles aus ihrem Fundus ist mir deshalb sehr fremd geworden, seitdem ich das „Verstehen“ als geisteswissenschaftliche Erkenntnismethode kennen gelernt hatte.

Zu diesem Thema ein berühmtes Zitat von Goethe:

Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf. Am allerfördersamsten sind aber unsere Nebenmenschen, welche den Vorteil haben, uns mit der Welt aus ihrem Standpunkt zu vergleichen und daher nähere Kenntnis von uns zu erlangen, als wir selbst gewinnen mögen.

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Zitiert nach: Josef Rattner: Der schwierige Mitmensch. Psychotherapeutische Erfahrungen zur Selbsterkenntnis, Menschenkenntnis und Charakterkunde. – Frankfurt a.M.: Fischer Tb. Vlg. 1973. (= Fischer-Tb. 6186). Motto.
[Rattner bezieht sich dabei auf „Goethe: Bedeutendes Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, Inselausgabe, Bd. 6, S. 478“]

Donnerstag, 22. Januar 2009

Was brüten sie aus ...

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Es fällt mir schwer, meinen folgenden Gedankengang gut herzuleiten und zu begründen; seitdem er mich irgendwann vor einigen Tagen „überfallen“ hat, halte ich ihn aber für nachdenkenswert:

Wenn ich junge Menschen heute so sehe, auf der Straße, im Fernsehen, vor einiger Zeit auch noch in der Schule, Kinder, Jugendliche, Heranwachsende, junge Erwachsene, so ist mir vieles fremd, wofür sie sich begeistern, Musik, Idole, Shows, Handys, Lieblingsfernsehsendungen …, irgendwie eine Welt, zu der ich nur ansatzweise Zugang habe, etwas Eigenes. Wahrscheinlich sind die jungen Leute auch stolz darauf, sich von den „Alten“ abzuheben und ihr eigenes Ding zu machen. Aber ist das nicht nur die Oberfläche, sind sie wirklich so frei in ihrer andersartigen Lebensgestaltung, rumort nicht doch vieles darunter, was ihnen ohne ihre Zustimmung aufgebürdet wurde? Was „brüten sie aus“, was in ihnen steckt wie ein geheimer Bazillus, ihnen aber heute noch gar nicht zugänglich ist, vielleicht erst später, wenn sie wie ich mit 61 Jahren über „früher“ nachdenken?

Ich glaube, dass ich in meiner Jugend von meiner „Kultur“ her meinen Eltern auch irgendwie fremd war, darunter litt, von ihnen nicht recht verstanden zu werden, aber auch froh über den großen Freiraum war, den ich z.B. als Student genießen konnte. Meine Eltern waren sehr bemüht, uns als ehemalige Flüchtlinge wieder wirtschaftlich auf die Beine zu bringen; um uns herum blühte der (im heutigen Blick bescheidene) Wohlstand mit seinen offensichtlichen Erkennungszeichen wie Telefon, Fernsehen, Autos, Reisen allmählich auf (ich bin ein gebürtiger „Wessi“!) und alle waren sehr damit beschäftigt, daran teilzuhaben und sich vor den bösen Kommunisten zu fürchten.

Als ich älter wurde, habe ich dann begriffen, was uns jungen Leuten aber wirklich von unseren Vorderen aufgebürdet worden war, was sie selbst kaum als Thema ertragen konnten und uns Nachgeborenen zur Verarbeitung „vererbt“ haben. Das Thema Nationalsozialismus war weitestgehend tabu in meiner Kindheit und Jugend. Eine wirkliche Aufarbeitung scheint erst heute zu gelingen, wo die wirklich Betroffenen schon gestorben oder Greise sind. Eine Vielzahl von Büchern thematisiert die Versuche von Kindern und Enkeln, die unaufgelösten Widersprüche der damaligen Generation aufzulösen. Auch die Aufarbeitung der eigenen dramatischen Ereignisse im Zusammenhang mit Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung hatte erst in den letzten Jahren wirklich „Konjunktur“, was einschlägige Veröffentlichungen betrifft. Bei meiner eigenen Familie sehe ich, das ist mein individuelles Schicksal, wie die Nachwirkungen von 1945 zu ihrer Zerrüttung beigetragen und meine Eltern nach der Flucht in einem Gefühl tiefer Heimatlosigkeit zurückgelassen haben. Irgendwie waren wir immer Fremde unter den anderen Menschen. Dass das auch anders sein kann, habe ich erst nach sehr vielen Umwegen und Umzügen erleben können. Hier, in Brandenburg, fühle ich mich heimisch. Ich bin gerne hier und will nicht mehr anderswo hin, was über Jahrzehnte ein Traum von mir war. Der hat sich erst hier in der Heimat meiner Vorfahren aufgelöst. An diesen ungelösten Problemen meiner Eltern, die sie vielleicht so gar nicht hätten benennen können, habe ich lange gearbeitet, denn sie waren in meinen persönlichen Problemen immer mit enthalten. Jetzt ist es friedlicher für mich geworden. Das hat aber viel Kraft gekostet. Aber ich glaube nicht, dass andere meiner Generation völlig „ungeschoren“ davongekommen sind und ich ein Einzelschicksal bin.

Nach diesem langen Exkurs in meine Vergangenheit möchte ich jetzt den Bogen zu den jungen Leuten heute wieder herstellen. Was haben sie von ihren Eltern an Lasten übertragen bekommen, welche Probleme „brüten sie noch aus“? Was sind heute die Tabus, an die die Älteren zumeist nicht heran wollen? Vordergründig gibt es natürlich einen Haufen Probleme, riesige sogar, wenn ich an die ökologische Zukunft der Welt, den Abbau des Sozialstaats, die Aufspaltung in arm und reich, die Überalterung unserer Bevölkerung bei gleichzeitig gigantisch anwachsender Weltbevölkerung denke und dadurch die „Verteilungsprobleme“ der Zukunft sehe (es haben auch schon andere Leute von zukünftigen Verteilungskämpfen, ja Kriegen gesprochen) … Aber ist das schon alles? Leider wohl nicht. Meine Elterngeneration hat sich davor gedrückt, ihre NS-Vergangenheit zu bearbeiten, vielleicht auch Schuld abzutragen und zu trauern. Es können ja nicht alle nur harmlose Mitläufer gewesen sein ... Und heute? Wo hat z.B. eine wirkliche Verarbeitung aller Verstrickungen aus DDR-Zeiten stattgefunden? Wie haben die Älteren den Bruch 1989 in ihrer Biographie verkraftet? Das wäre die Frage an die „Ossis“, bei den Westdeutschen würde ich schon gerne wissen, warum sie sich so wenig gegen den grenzenlosen Kapitalismus der neoliberalen Zeit gewehrt haben und so wenig Interesse hatten, sich in demokratischen Institutionen zu engagieren. Ein wenig „1968“ täte wahrscheinlich uns allen gut. Das geht natürlich im wörtlichen Sinne nicht, denn man kann nicht in der Vergangenheit leben, allerdings aus ihr lernen. Verkrustungen wie damals gäbe es genug …

Doktor Dolittle und das liebe Geld

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Dies soll nur eine kleine Zwischenbemerkung werden, aber die zufällige (?) Übereinstimmung mehrerer Ereignisse hat mich doch beeindruckt:


Vor wenigen Tagen erst habe ich den Film „Let’s Make Money“ gesehen, schon in vielen Rezensionen angepriesen und auch wirklich erschreckend gut; ich habe mir vorgenommen, in meinem blog noch einmal über ihn zu schreiben.


Ziemlich gleichzeitig erhielt ich die Informationen von attac über den geplanten Kongress in Berlin zum Thema „Kapitalismus am Ende?“ (in der TU am 6.-8. März 2009, nähere Informationen unter www.attac.de/kapitalismuskongress).


Und am Abend lese ich – einfach so, ohne Hintergedanken – meinem kleinen Sohn Paul Jakob das tägliche Einschlaf-Kapitel aus unserem derzeitigen Vorlesebuch „Doktor Dolittles Zirkus“ von Hugh Lofting vor, ein Kinderbuch-Klassiker von 1935.


Ich traue meinen Augen nicht, als ich dort die folgende Passage vorlesen muss (darf):


Beppo und Johann Dolittle waren noch nicht weit gekommen, als sie von Tuh-Tuh eingeholt wurden.

„Doktor“, rief die Eule, „ich bin Ihnen nachgeflogen, um Ihnen von dem großen Angebot zu erzählen.“

„Tuh-Tuh“, antwortete Johann Dolittle, „im Augenblick ist mir jedes Gespräch über Geld noch verhaßter als sonst. Beppo und ich versuchen eben, vor seinem Gestank davonzulaufen.“

„Aber denken Sie daran, was Sie alles mit Geld erreichen können“, sagte Tuh-Tuh.

„Ja, ja, das ist das Dumme an diesem ekelhaften Zeug. Durch seine Macht wird es zu einem solchen Fluch.“


[Kommentar J.Lüder: Dr. Dolittle, der die Tiersprache beherrscht, hat sich mit seinen Tieren einem Zirkus angeschlossen, weil er dringend Schulden begleichen muss. In einer Notsituation des Zirkus springt er mit Beppo, einem altersschwachen Arbeitspferd, mit einer Nummer als „sprechendes Pferd“ ein. Der Zirkusdirektor hat dafür den beiden versprochen, Beppo zu „pensionieren“ und ihm einen dauerhaften Weideplatz auf einem Bauernhof zu besorgen. Die Aufführung gelingt bravourös, der Zirkus wird von Besuchern gestürmt. Daraufhin bietet der Direktor erhebliche Summen für eine Verlängerung der Auftritte von Beppo. Beppo und Dr. Dolittle sind aber nur an der versprochenen Pferde-Pension interessiert.]


Dieses Zitat stammt aus: Hugh Lofting: Doktor Dolittles Zirkus. – Hamburg: Cecilie Dressler Verlag 1991. (= Dressler Kinder-Klassiker). S. 208-209.

Sonntag, 18. Januar 2009

Mein Motto für den Monat Januar 2009

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Ursprünglich hatte ich an dieser Stelle einen kurzen Bericht über den Ethnologen Claude Lévi-Strauss geplant, der im November 2008 einhundert Jahre alt geworden ist. Aus aktuellen Gründen verschiebe ich diesen Beitrag auf einen späteren Termin!

Gestern erhielt ich einen kurzen Brief von ver.di, in dem Frank Bsirske als Vorsitzender an alle Mitglieder zum Jahresbeginn einen Gruß aussprach. Mir gefällt er so gut, dass ich aus ihm mein „Motto für den Januar“ zitieren möchte. Es könnte aber ebenso gut das „Jahresmotto 2009“ sein!!

Die Finanzkrise ist in Europa angekommen, und wir konnten zusehen, wie all die neoliberalen Verfechter einer grenzenlosen Freiheit der Finanzmärkte plötzlich nach dem Staat riefen. Dadurch müsste eigentlich endgültig klar geworden sein, wie sehr wir einen finanzstarken und handlungsfähigen Staat brauchen. Doch während wir Gewerkschaften uns dafür engagieren, die Fehlentwicklungen der letzten Jahre zu korrigieren, versteift sich die Politik darauf, wahlweise die Steuern oder die Sozialabgaben zu senken. Beides führt zu einer Verknappung der Mittel und damit absehbar zu neuen Defiziten und weiterem Sozialabbau. Dabei brauchen wir dringend Investitionen in den Bildungssektor, das Gesundheitswesen und die öffentliche Infrastruktur statt weiterhin die Privilegierung von Unternehmen und Reichen.

Setzen wir uns gemeinsam dafür ein – für die Zukunft unseres Landes und unserer Kinder!

FRANK BSIRSKE

Dienstag, 13. Januar 2009

Weihnachts-Nachlese

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Ich habe noch einmal über meine „Verrenkungen“ in mehreren blog-Einträgen vor Weihnachten nachgedacht, über die Schwierigkeiten, den Sinn dieses Festes zu ergründen, sich nicht von Kommerz und Konventionen zu sehr erdrücken zu lassen und eine eigene Form des Feierns zu finden. Gerade das eher Stille dieser Tage scheint viele Menschen so anzustrengen, dass sie in „unchristlicher Ausgelassenheit“ Sylvester alle angestauten Anspannungen beim Feuerwerk – je lauter, desto besser – abreagieren müssen. So kommt es mir jedenfalls vor. „Einmal so richtig die Sau rauslassen“: ein solches Getöse geht ohne Sanktionen nur am Jahresende. Damit habe ich mich wahrscheinlich als „Sylvester-Feind“ geoutet!? Doch das stimmt nur teilweise, weil ich sehr gern bei prächtigen Feuerwerken zusehe, jedoch in mir die Wut aufsteigt, wenn bereits am Nachmittag des 30.12. Jugendliche neben mir wahrscheinlich polnische (und damit besonders laute) Kanonenschläge zünden, wenn ich mit meinem kleinen Sohn Paul Jakob vorbeigehe.

Jetzt bin ich von meinem ursprünglichen Thema ein großes Stück weggekommen, obwohl meine Beobachtungen sicherlich mit der Seelenlage vieler Menschen etwas zu tun haben. Sagen wollte ich nur, dass es ein gläubiger Christ mit Weihnachten wahrscheinlich viel leichter hat. Für ihn steht die Krippe und die Geburt Christi im Mittelpunkt aller Überlegungen, die immer wieder wiederkehrende Verheißung eines Neubeginns, der Friedensbotschaft der Engel und die Fortsetzung menschlichen Lebens auf dieser Erde, denn wofür könnte sonst die Geburt eines Kindes stehen? Dazu kommt natürlich noch die Heilserwartung der christlichen Religion, für die Ostern das viel wichtigere Fest darstellt. In einem nichtchristlichen Verständnis könnte diese Botschaft aber auch lauten, dass uns nicht das Heil von außen geschenkt wird, sondern dass wir aufgerufen sind, diesen Fortbestand des Lebens zu feiern, ihn als höchstes Gut der Menschheit zu begreifen und alle unsere Kräfte in seine Dienste zu stellen, Frieden zu schaffen, das Leben zu schützen und seine Zukunft zu sichern.

Meine Link-Tipps II: amnesty international

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Schon seit längerem verzeichnen meine „Link-Tipps“ auch die Menschenrechtsorganisation


amnesty international: www.amnesty.de


Wie bei attac und ver.di bin ich bei dieser Organisation unterstützendes Mitglied, ebenfalls eher in der Rolle eines Beobachters und Förderers als aktiv, aber immerhin!


Am 10.Dezember 2008 war der Gedenktag zum 60jährigen „Jubiläum“ der UNO-Resolution 217A (III), der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, der Bezugspunkt der Arbeit von amnesty international. Leider bleibt noch sehr viel zu tun … Dabei ist weiterhin offen und umstritten, ob diese Menschenrechte eine Erfindung der westlichen Kultur sind oder einen allgemeinen Geltungsbereich haben. Da es sich aber nicht um ein Naturgesetz handelt, sondern um die kulturelle Leistung der Menschheit, sich in einem fortwährenden Diskurs zu verständigen und zu einigen, wird auf dieser Ebene immer etwas in Bewegung bleiben. Mich friert jedenfalls jämmerlich bei der Vorstellung, in einem Land leben zu müssen, das sie nicht anerkennt. Wahrscheinlich ist das aber nur ein mildes Bild für die Qualen, die viele Menschen auf dieser Welt im Namen irgendwelcher selbst ernannter Autoritäten, Glaubenslehren und Ideologien erleiden, insbesondere wenn sie zu einem eigenständigen Denken vordringen und von der Mehrheit abweichende Positionen einnehmen.

Späte Neujahrsgrüße

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Allen Besucherinnen und Besuchern meiner blog-Seite wünsche ich ein gutes neues Jahr!

Durch ein technisches Manko konnte ich lange meinen Internet-Zugang nicht nutzen. So mangelt meinem heutigen Eintrag etwas die Aktualität, aber ich konnte länger über ihn nachdenken. Auch ein Vorteil, wenn ich bedenke, wie schnell viele Menschen zu Sylvester/Neujahr pauschal Wünsche an andere aussprechen (was ich dennoch grundsätzlich für eine soziale Tugend halte!) und, viel komplizierter, sich selbst Ziele setzen, „anders“ werden zu wollen. Das klappt aber oft bereits nach kurzer Zeit nicht so richtig, weil diese gewünschten Veränderungen nicht realistisch und kleinschrittig genug waren. Zurück bleibt dann entweder eine gewisse Beschämung oder die Kapitulation vor dem „inneren Schweinehund“.

Nein, so etwas möchte ich nicht! Stattdessen:

Für ein individuell wirklich gutes neues Jahr wünsche ich Ihnen allen Gesundheit, Kraft für den Alltag und wichtige Schritte, Durchhaltevermögen auch in schwierigen Situationen und liebe Menschen, die Anteil nehmen an Freud und Leid.

Für uns alle gemeinsam sieht es möglicherweise mit einem „schönen neuen Jahr“ allerdings eher heikel aus. Nach allen Prognosen können uns noch erhebliche Probleme treffen, gerade weil „die große Politik“ in Kernfragen weiter „herumwurstelt“ und nichts in die Gänge bringt (soziale Verwerfungen in unserem Land, völlig unzureichende Investitionen in die Bildung und Kinderbetreuung, Halbherzigkeiten bei ökologischen Fragen u.a.). Wir merken in unserem Alltag noch nicht viel davon und die meisten von uns werden – mangels „Masse“ - beim Kollaps der Finanzmärkte keine Millionen in den Sand gesetzt haben. Glaubt man aber einschlägigen Wissenschaftlern wie dem Sozialpsychologen Harald Welzer, so finden gerade umwälzende Ereignisse in der Welt statt, die später einmal als markanter Wendepunkt in der Weltgeschichte bezeichnet werden könnten. In seinem Essay „Blindflug durch die Welt. Die Finanzkrise als Epochenwandel“ (in: SPIEGEL 1/2009) nennt er so etwas einen systemischen „tipping point“, von dem an Entwicklungen im schlimmsten Falle nicht mehr korrigierbar sind. Denn: „Die sich gegenwärtig addierenden Krisen – Klima und Umwelt, Energie, Ressourcen und Finanzen machen […] deutlich, dass wir es an vielen Fronten mit einem uferlos gewordenen Nichtwissen über die Konsequenzen unseres Handelns zu tun haben.“

Es gibt also viel zu tun! Erster Schritt: Sich eine eigenständige Meinung verschaffen und bewahren und nicht alles glauben, was uns oft „aufgeschwatzt“ wird. Und da wird ja noch einiges auf uns zukommen, denn 2009 ist in Deutschland ein einziges großes Wahljahr.

Mein Sohn meinte, ich entwickelte mich in meinem höheren Alter jetzt wohl noch zum „Fundi“. Es klang nicht so ganz schmeichelhaft, denn offenbar vermisste er bei mir den Realitätssinn bei der Umsetzung politischer Positionen. Vielleicht hat er ein Stück weit Recht. Ich aber finde: lieber spät ein „Fundi“ als nie! (Und schon gar nicht als Vogel Strauß mit dem Kopf im Sand!)

Ich hoffe, Ihnen auch im begonnene Jahr wieder eine Reihe von interessanten Beiträgen schreiben zu können!

Herzlich Ihr Jürgen Lüder