Dienstag, 30. Juni 2009

Mein Motto für den Monat Juli 2009

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Seit über 30 Jahren begleitet mich dieser einfache Satz, der so schwer zu leben ist!



Du sagst nicht, was du denkst, und du tust nicht, was du sagst. Sage, was du denkst und tue, was du sagst!



MARTIN BUBER


Erzählungen der Chassidim


Zitiert nach: Tobias Brocher: Gegen die Tugend der Beharrlichkeit. – In: Gerhard Reim (Hrsg.): Warum ich mich geändert habe. – Stuttgart und Berlin: Kreuz-Vlg. 1971. Darin Brocher S. 9 -14, Zitat Buber S.14.

Dinosauria IV: Bedarfe

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Woran wird mein Dinosaurier-Charakter am deutlichsten sichtbar? An meinem altmodischen Sprachgebrauch! Dazu gehört sicherlich meine Abneigung gegen ständige Anglizismen, geschenkt! Vieles davon ist sicherlich nur „slang“ und damit einfach nur modisch.

Gefährlicher finde ich die Umdeutungen älterer Begriffe, die auf den Kopf gestellt werden und plötzlich eine ganz andere Bedeutung erhalten. Mein berühmtestes Beispiel: die Hartz-„Reformen“, die im Gegensatz zu früher keine Verbesserungen für das Gros der Bevölkerung gebracht haben, sondern deutliche Einschnitte ins soziale Netz.

Und dann gibt es noch die Wort-Neuschöpfungen, die oft mit einem sehr „neoliberalen“ und rein betriebswirtschaftlichen Denken einhergehen. Sie kann ich am wenigsten leiden … (Aber wer fragt schon mich.)

Ein besonders hässliches Wort ist dabei für mich „Bedarfe“. Von früher her kannte ich es überhaupt nicht. Jetzt wird es in einschlägigen Kreisen ständig ganz selbstverständlich verwendet und hat die mir von früher her vertrauten „Bedürfnisse“, die Menschen halt so entwickeln und gern erfüllt bekommen würden, offenbar in der Fachsprache verdrängt. Eine ehemalige Kollegin verwendete diesen Begriff in einem Praxisauftrag für die Praxisphase einer Erzieherklasse, die ein Projekt planen sollte. Im Sozialausschuss meiner Heimatstadt stellten Träger sozialer Einrichtungen ihre Konzepte vor und redeten nur von den Bedarfen des Klientels.

Ich habe länger darüber gegrübelt, warum ich diese Wort-Neuschöpfung so hässlich finde und bin mir endlich auf die Spur gekommen: „Bedürfnisse“ haben lebendige Menschen, bei „Bedarfen“ sind diese zu Zahlenkolonnen und ökonomischen Daten geronnen, die für abstrakte Planungen herhalten müssen und je nach Haushaltslage realisiert, gekürzt oder sogar eingespart werden. Statistik und Finanzen. Schlimmstenfalls verschwinden die „diese Leistungen Nachfragenden“ ganz dahinter.

Mein Sohn Paul Jakob hat die Bedarfe, häufiger Bücher und Videos aus der Bibliothek auszuleihen, auch einmal ins Kino zu gehen und ein Eis zu essen. Wir werden einen Plan aufstellen, in welcher Häufigkeit diese Maßnahmen möglich sind, wann dafür Zeit einzuplanen ist und welcher Etat (sprich: Portemonnaie von Mama oder Papa) dafür noch zur Verfügung steht oder ob ein Nachtragshaushalt bewilligt werden muss. Wir werden darum streiten!

Dann ist mir noch eine weitere Quelle meines Verdrusses eingefallen. In meiner nun doch schon lange zurückliegenden Schulzeit haben wir viele Kurzgeschichten gelesen und interpretiert. Sie waren damals modern und dienten als gutes Vehikel für engagierte Schriftsteller, Kritik an gesellschaftlichen Prozessen auszudrücken. Ich erinnere mich besonders an Heinrich Böll! Eine seiner Geschichten hieß, wenn ich mich recht erinnere: „Die ungezählte Geliebte“. Kurz der Inhalt: Ein junger Mann verdient, wahrscheinlich als Studentenjob, sein Geld als Verkehrszähler auf einer Kölner (?) Rheinbrücke. Aus statistischen Gründen muss er alle Verkehrsteilnehmer in Strichlisten aufführen. Fußgänger, Radfahrer, Autos, Lastwagen, Busse. Alle Menschen werden zu Strichen, dann zu Zahlen und dann verrechnet. Nur eine hübsche unbekannte junge Frau, die ihm sehr gefällt und die täglich die Brücke überquert, zählt er nicht mit. Sie soll ihre Seele behalten und nicht zu einem beliebigen Strich werden. So ähnlich muss die Geschichte sein, die ich seither nie wieder gelesen habe, die mir aber jetzt eingefallen ist.

Sie gefiel mir damals und heute noch viel mehr!

Montag, 29. Juni 2009

Lieblingszitate XXXXII

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Wieder zurück! Ich begrüße meine Leserinnen und Leser in der neuen Woche mit einem Zitat meines früheren Lehrers in die Tiefenpsychologie und Individualpsychologie zum Thema „Selbsterkenntnis“ und „Kindererziehung“, was ja gut an einige Texte der vergangenen Woche anschließt!



Wenn die Eltern in der Lage sein sollen, die Kinder besser und fortschrittlicher zu erziehen, als sie selbst erzogen wurden, dann muss man zunächst das Problem der Elternerziehung angehen. Sind denn die Eltern selbst ausreichend erzogen? Man möge hier nicht allzu rasch über diese Frage hinweggehen. Die eigenen Verhaltensmängel bleiben nicht selten der Selbsterkenntnis entzogen. Nun erzieht man aber nicht mit dem, was man sich vornimmt, sondern mit dem, was man ist. Man erzieht mit seiner ganzen Persönlichkeit, mit seinen Charakterschwächen und – Stärken, mit seiner Lebensgrundstimmung. In letzterer steckt man schon von der allerersten Kindheit an drin. Darum weiß man so wenig von der Stimmung, die dauernd um einen waltet, die man ausstrahlt und um sich verbreitet. Gerade diese aber wirkt in der Erziehung des Kindes.


JOSEF RATTNER



In: Josef Rattner: Erziehung als Selbsterziehung der Eltern. – In: Miteinander leben lernen. H. 4/1985. S. 2- 6. Zitat S. 4.

Donnerstag, 25. Juni 2009

Lieblingszitate XXXXI

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Das Gedicht spricht für sich! Etwas leicht Freches und Ironisches noch zum anstehenden Wochenende, bevor ich wegen einer kleinen Reise eine Pause bis zur nächsten Woche einlege. J.L.



Der tugendhafte Hund


Ein Pudel, der mit gutem Fug

Den schönen Namen Brutus trug,

War viel gerühmt im ganzen Land

Ob seiner Tugend und seinem Verstand.

Er war ein Muster der Sittlichkeit,

Der Langmut und Bescheidenheit.

Man hörte ihn loben, man hörte ihn preisen

Als einen vierfüßigen Nathan, den Weisen.

Er war ein wahres Hundejuwel!

So ehrlich und treu! Eine schöne Seel’!


Auch schenkte sein Herr in allen Stücken

Ihm volles Vertrauen, er konnte ihn schicken

Sogar zum Fleischer. Der edle Hund

Trug dann einen Hängekorb im Mund,

Worin der Metzger das schön gehackte

Rindfleisch, Schaffleisch, auch Schweinefleisch packte.

Wie lieblich und lockend das Fett gerochen:

Der Brutus berührte keinen Knochen,

Und ruhig und sicher, mit stoischer Würde,

Trug er nach Hause die kostbare Bürde.


Doch unter den Hunden wird gefunden

Auch eine Menge von Lumpenhunden –

Wie unter uns – gemeine Köter,

Tagdiebe, Neidharte, Schwerenöter,

Die ohne Sinn für sittliche Freuden

Im Sinnenrausch ihr Leben vergeuden!

Verschworen hatten sich solche Racker

Gegen den Brutus, der treu und wacker,

Mit seinem Korb im Maule, nicht


Und eines Tages, als er kam

Vom Fleischer und seinen Rückweg nahm

Nach Hause, da ward er plötzlich von allen

Verschworenen Bestien überfallen;

Da ward ihm der Korb mit dem Fleisch entrissen,

Da fielen zu Boden die leckersten Bissen,

Und fraßbegierig über die Beute

Warf sich die ganze hungrige Meute. –

Brutus sah anfangs dem Schauspiele zu

Mit philosophischer Seelenruh;

Doch als er sah, dass solchermaßen

Sämtliche Hunde schmausten und fraßen,

Da nahm auch er an der Mahlzeit teil

Und speiste selbst eine Schöpfenkeul’.



Moral


Auch du, mein Brutus, auch du, du frisst?

So ruft wehmütig der Moralist.

Ja, böses Beispiel kann verführen;

Und, ach! Gleich allen Säugetieren,

Nicht ganz und gar vollkommen ist

Der tugendhafteste Hund – er frisst!



HEINRICH HEINE


Gefunden in: Paul Alverdes (Hg.): Das Nashorn als Erzieher. Fabeln der Welt. dtv 439.

[in meiner Sammlung seit dem 16.9.1980]

Mittwoch, 24. Juni 2009

Lieblingszitate XXXX

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Nach dem gestrigen „pädagogischen Text“ passt auch das heutige Zitat auf meinen blog, denn es bezieht sich auf die dort erwähnten Ichgrenzen, die ein Kind erst erwerben muss, um sie günstigstenfalls in Muße später wieder überschreiten zu können. Die Autorin: eine Koryphäe und Klassikerin der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und der Tiefenpsychologie!


Wir wiederholen nochmals die Meinung, dass man ein Kind kaum tiefer ängstigen kann als dadurch, dass man ihm alles erlaubt. Es ist eine für ein Kind nicht tragbare Zumutung, dass es mit dem geringen Erfahrungsschatz, über den es erst verfügt, bereits seine eigenen Grenzen ziehen soll.

ANNEMARIE DÜHRSSEN



Zitiert nach: miteinander leben lernen. 15. Jahrgang 1990. H.1. S.11.
[in meiner Zitaten-Sammlung seit dem 9.3.1993]

Dienstag, 23. Juni 2009

Reminiszenzen - Erziehung zur Mußefähigkeit

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Ein weiterer meiner älteren Artikel, zeitlich gesehen „leicht angestaubt“, aber nach meinem eigenen Empfinden „nicht von gestern“! Einiges würde ich heute anders formulieren, Kritik schärfer fassen; einige der damaligen „Neuerungen“, über die ich mich damals mokierte, haben ihrerseits bereits Patina angelegt und wurden von noch „schärferen Varianten“ abgelöst. Aber das Thema bleibt anziehend für mich, Muße ist und bleibt eine hohe Lebenskunst! Und an einigen Stellen in meinem alten Artikel scheint hindurch, was damit gemeint sein könnte. Das habe ich befriedigt beim Wiederlesen festgestellt und hoffe auf eine ähnliche Wirkung bei meinen Lesern!

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Der folgende Aufsatz erschien erstmalig in dem Themenheft „Muße als Lebenskunst“ von MITEINANDER LEBEN LERNEN, Zeitschrift für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie, 10. Jahrgang, H.2. März 1985, S. 43 – 48


Erziehung zur Mußefähigkeit


Jürgen Lüder


„Der erste Anblick der See hypnotisierte mich förmlich. Als ich mich ihr in strahlendem Sonnenlicht … näherte, kam sie mir wie etwas Schwebendes, wie ein zitterndes lebendiges Ungeheuer vor, das bereit war, sich auf mich zu stürzen. Wir drei zogen die Schuhe aus und planschten im Wasser. Das Gefühl von lauem Seewasser um Spann und Ferse, vom sanften Nachgeben des Sandes unter meinem Tritt bereitete mir Entzücken. Was war das für ein Tag – der safranfarbene Stand, bestreut mit rosa und blauen Eimerchen, mit Holzschaufeln, farbigen Zelten und Sonnenschirmen, Segelboote, … die nach Teer und Tang rochen – ein Zauber, der in meiner Erinnerung fortdauert.“ (1)


Muße in der Kindheit – an diesem schönen Beispiel ist zu sehen, welche beglückende, noch den Erwachsenen bereichernde Erfahrung dies sein kann, mit allen Sinnen sich einer neuen Situation hinzugeben und ganz absichtslos in den Augenblick einzutauchen.


Nur scheint sie ein eher seltenes Phänomen zu sein. Denn bei der Durchsicht von Kindheitsbeschreibungen berühmter Persönlichkeiten konnte ich nur wenige Beispiele finden, die Muße so deutlich spiegeln wie hier bei Charly Chaplin. Viel mehr Raum nehmen etwa Ängste, Konflikte mit harten oder verständnislosen Erziehern und das Leben und Arbeiten in der Schule ein, die sich als Erinnerung einprägten.


Kindheit, ein ohnehin im kulturellen und sozialen Wandel der Zeiten sehr verschwimmender Begriff, entpuppt sich als ein Mythos, wenn man damit unbekümmerte Jahre uneingeschränkten Glücks verbindet. Zu dieser Täuschung dürfte der teils erstaunt freundliche, teils neidische Blick des Erwachsenen beitragen, der selbstvergessen spielende Kinder beobachten kann.


Zweifellos gehört aber die Muße zu den höheren Lebenswerten, die angesichts des sich immer mehr ausweitenden Raums für Freizeit besondere Bedeutung erlangen. Die Wurzeln zu ihrer Befähigung verweisen in die Kindheit. Deshalb soll in diesem Artikel untersucht werden, unter welchen Rahmenbedingungen sich Mußefähigkeit entwickeln kann, insbesondere im kindlichen Spiel. Die heute auf Konsum und Zerstreuung ausgerichteten und damit Freiräume für Muße gleichzeitig wieder einschränkenden gesellschaftlichen Bedingungen sollen ebenso aufgezeigt werden wie einige Hinweise, wie Erwachsene Kinder zu einem Leben mit mehr Muße hinführen könnten.



Muße und Erziehung


Was ist Muße? Die Artikel dieses Heftes machen deutlich, dass ihre Inhalte individuell variieren und zeitabhängig sind, aber es werden gemeinsame Strukturen deutlich. Wie das Glück ist sie ein Seelenzustand, der Spuren in der Erinnerung hinterlässt, sich aber weder erzwingen noch gar festhalten lässt. Ähnlich wie die Liebesfähigkeit, die manche Autoren mit ihr gleichsetzen, lebt sie vom Augenblick und bewirkt ein sensorisches und emotionales Verschmelzen mit der Situation; Grenzen können überschritten werden, ohne feste Ziele zu verfolgen, was Vergnügen und Lust bereitet. Die Zeit geht passiv verloren, Ergebnisse und Erfolge werden unwichtig gegenüber der Freude an der Erinnerung an ihren Ablauf.


Damit Muße überhaupt entstehen kann, sind manche Voraussetzungen notwendig, die einerseits die Situation, andererseits den sich der Muße hingebenden Menschen betreffen. So muss Zeit zur Verfügung stehen, ein Freiraum bestehen, der frei von Zwängen ist. Aber nur ein Mensch, der keine drängenden Lebensprobleme hat, die sonst ängstigen, und Handlungen abgeschlossen hat, d.h. arbeiten konnte, wird sie zu nutzen fähig sein. In diesem Sinne betont Rohrlich: „Das lustvolle Erlebnis der Grenzenlosigkeit in Muße und Liebe hängt davon ab, dass man zunächst feste persönliche Grenzen errichtet hat … Man muss ein fest umrissenes Selbst haben, um es in Muße … wirklich zu verlieren. Arbeit als Voraussetzung für die Errichtung ausgestalteter persönlicher Grenzen geht nicht nur in dem praktischen Sinn der Muße voraus, dass man Geld verdienen muss, um seine Freiheit zu genießen. Sie geht ihr auch im psychischen Bereich voraus.“ (2)


Solche fest gefügten Ichgrenzen kann ein Kind noch nicht haben, aber in der Kindheit wird der Grundstock gelegt, dass sie sich entwickeln können. Überhaupt kann Erziehung nicht direkt Muße anstreben, da dies deren Wesen widerspricht, aber Rahmenbedingungen schaffen, dass sie möglich wird, wenn das Kind positiv auf die Entwicklungsanreize reagiert.


Aufgrund von Erfahrungen aus seiner eigenen Kindheit betont Russell eine solche Bedingung, nämlich das produktive Aushalten von Langeweile, aus der heraus sich erst Gedanken, Gefühle und Wünsche entwickeln können: „Schon den Kindern sollte beigebracht werden, ein mehr oder weniger einförmiges Leben zu ertragen.“ (3) Zu viele äußere Anregungen wirkten erschöpfend, führten nicht zu Glück und größeren Leistungen; vielmehr sollte die Freude der Kinder das sein, was sie selbst mit Mühe und Erfindungsgabe der Umgebung abgewinnen könnten.


Es gibt viele Lebensbereiche, in denen Muße erlebbar sein kann: beim Feiern, Lesen, in neuartigen Situationen, die ein Staunen hervorrufen, beim Sport, in der Natur u. a. m. Als besonders bedeutungsvoll soll hier der Bereich des Spiels herausgegriffen werden, denn „das Spiel ist sicherlich eine der großen Lebenssphären des Menschen, die ihn von der Kindheit bis ins hohe Alter beschäftigt, in der Jugend als Vorschulung für das Leben, später als Muße und schöpferische Entspannung, wo er zu sich selber kommt und sich seiner inneren Kräfte bewusst wird.“ (4)



Muße und Spiel


Diese herausragende Bedeutung des Spiels deutete bereits Schiller an („Der Mensch ist nur dort Mensch, wo er spielt.“), Eugen Fink bezeichnete es als „Oase des Glücks“, und der Kulturphilosoph Huizinga widmete ihm ein ganzes Buch: „Homo Ludens“ (der spielende Mensch), in dem er folgende Definition gibt: „Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Anderssein’ als das ‚gewöhnliche Leben’“. (5)


Je nach Blickwinkel kann man beim spielenden Kind verschiedene Aspekte im Vordergrund sehen, sein Tätigsein voller Elan aufgrund überschüssiger Energie, das lustvolle Erleben, sein Hineinwachsen in die Welt der Großen durch Nachahmung und Identifizierung, Erholung von anderen Tätigkeiten und Pflichten, insbesondere eine Förderung von Kreativität und Phantasie. Walter Schraml, der verschiedene Theorien zusammenzufassen sucht, betont besonders die schöpferische Seite des Spiels bei gleichzeitiger Freiheit von einfachen Bedürfnissen, Aspekte, die sehr an die obigen Ausführungen über Muße erinnern. (6)


Wesentlich scheint auch zu sein, dass die Spielfreude von der Zweckfreiheit des Spiels abhängt. Dies konnten amerikanische Psychologen in einem Experiment mit zwei Kindergruppen nachweisen, von denen der einen gesagt worden war, sie würden für ihr Spiel anschließend eine Belohnung erhalten, während man die andere einfach spielen ließ. In einer späteren Situation zeigten die ursprünglich belohnten Kinder viel weniger Lust, sich erneut mit dem schon bekannten Spielzeug zu beschäftigen; durch die Belohnung scheint das Spiel für sie eher Arbeitscharakter gewonnen zu haben, während sich die Kinder der zweiten Gruppe gern erneut mit dem Angebot vergnügten. (7)


Nun scheint diese „Oase“ aber in der heutigen Zeit sehr bedroht zu sein; Maria Winn spricht regelrecht von einem Verschwinden der Kinderspiele, insbesondere in der Gruppe der 6 – bis 12jährigen, wofür sie das Fernsehen und die Freizeitindustrie verantwortlich macht, die die Kinder in eine passive Konsumentenhaltung drängten und ihnen auch kaum noch Zeit zum Spielen ließen. (8) Besonders verwöhnte Kinder haben ohnehin wenig Spaß am selbständigen Spiel, weil sie von der Bestätigung durch die Eltern abhängig sind. Das heute angebotene Spielzeug dient oft mehr dem Profit des Herstellers als den Bedürfnissen der Kinder, deren Interesse an komplizierten, nur wenig beeinflussbaren Techniken rasch nachlässt. Zwar erfahren Kinder heute viel mehr über die Welt als frühere Generationen, jedoch vermittelt durch die Medien, während ihre unmittelbaren Umwelterfahrungen, etwa mit der Arbeitswelt der Eltern oder der Natur, eher zurückgegangen sind. Dies nivelliert nach Schraml auch das kindliche Spiel.



Mußefeindlicher Konsum


Wie sehen die konkreten Rahmenbedingungen aus, in denen Kinder heute überwiegend aufwachsen? Das folgende Bild ist sicherlich überspitzt, soll aber die Mußefeindlichkeit unserer heutigen Welt herausarbeiten. Die Situation ist paradox. Noch nie hatten Menschen mehr Freizeit als heute, Muße müsste kein aristokratischer Wert für wenige mehr sein, doch tatsächlich wird sie weniger gelebt als früher, weil andere Werte zählen: Leistung, im Konkurrenzkampf Bestehen und Konsum. Auch Kinder können schon einen Terminkalender wie ein Manager haben: Tanzen, Reiten, Sportverein, Nachhilfe …


Im Zuge dieser Entwicklung haben Fernsehen und Video „stillere Medien“ wie das Buch weitgehend verdrängt. Durch die gleichzeitige Darbietung von Ton und Bild bieten sich nur noch wenig Interpretationsmöglichkeiten für die eigene Phantasie. Extrem scheint diese Reizüberflutung bei einer amerikanischen Neuerung, den Video-Clips, zu sein, die eine hektische Untermalung von Musik bieten: „Früher stellte man die Lautstärke ein und genoss die Musik. Jeder mit seinen eigenen Empfindungen, eigenen Bildern. Damit ist nun Schluss. Videos diktieren ihre Version des Songs.“ (9)


Eine weitere, Erwachsene eher abstoßende , Kinder hingegen oft begeisternde Neuerung sind die Video-Spiele (Winn: „Video statt Murmeln“), die durch ihr Tempo und die begrenzte Spielzeit zu einer künstlichen Aufputschung und Erregung führen, während bei herkömmlichen Spielen Kinder selbst über Dauer und Verlauf bestimmen konnten.


Zu Hause erleben Kinder dann oft Erwachsene, wenn sie überhaupt für sie greifbar sind, die sich nach einem anstrengenden Arbeitstag abends konsumierend entspannen oder die Hektik und Nervosität in die Familie hineintragen. Oft herrscht auch eine Muße verhindernde Dauerspannung, wenn die Erwachsenen sich nicht mehr verstehen, aber keinen Weg finden, ihre Konflikte zu klären. Andere Eltern neigen dazu, ihre Kinder stark zu verwöhnen, vielleicht aus dem Schuldgefühl heraus, sich ihnen emotional nicht genügend zuwenden zu können, oder um sie einfach ruhig zu stellen. Solche Eltern fühlen sich leicht verantwortlich, ständig ihren Kindern „ein Programm“ zu bieten, sie mit Spielzeug oder Freizeitangeboten zu überhäufen, so dass die Kinder kaum lernen können, sich aus eigenem Antrieb zu beschäftigen. Sie fühlen sich dann ohne die Erwachsenen wenig tüchtig und erfolgreich und können nur wenig Selbständigkeit erwerben.


Auch das heutige Bildungssystem ist eher mußefeindlich und verkopft. Leistungen und kognitive Lernprozesse werden bereits im Kindergarten gefördert. Die „Sesamstraße“, ursprünglich als Lernkompensation für benachteiligte Unterschichtkinder konzipiert, wurde zum Lernstoff für gut vorbereitete Kinder des Mittelstandes. Geringer wurde hingegen die Zeit für phantasievolle Spiele, hinter denen nicht gleich ein didaktisches Modell steht. Berichte über „Schulangst“ zeigen, dass sich diese Entwicklung in der Schule fortsetzt, deren Zensurendruck besonders im Hinblick auf die heutige Ausbildungsmisere („Schaffe ich meinen Numerus clausus?“ „Bekomme ich eine Lehrstelle?“) Kinder schon früh unter Stress setzt. Es ist fraglich, ob dadurch eine wirkliche Arbeitsfähigkeit entstehen kann. Besonders scharf ist hier die Kritik von Hengst, „dass Schulunterricht von sinnlich-tätigen und selbständigen Lernprozessen, von Erfahrungen mit Ernstcharakter abschneidet und auf diese Weise entfremdet (10).“



Wege zur Muße


Jeder Versuch, Kindern dennoch den Bereich der Muße zu erschließen, muss mit der starken Konkurrenz der Umwelt rechnen. Fernsehen und andere Medien sind eine unumstößliche Realität; sie mit Vorstellungen guter alter Zeiten, in denen eine unschuldigere Kindheit möglich war, zu kritisieren, hilft nicht viel weiter.


Dennoch haben Erwachsene in der Familie, im Kindergarten oder in der Schule eine gute Chance, die aber schwieriger zu verwirklichen ist als Nachhilfe oder didaktische Spiele: Wir müssen beginnen, unser Leben so weit in Ordnung zu bringen, dass wir dem Kind Muße vorleben können, sie zu einem hohen Wert erheben und uns in dieser Richtung entwickeln. Können wir eine gute Beziehung zum Kind herstellen, wird es uns als Vorbild akzeptieren. Denn man lernt von dem, den man liebt!


Ebenso wichtig ist es, das Kind als eigenständige Persönlichkeit zu respektieren; Geborgenheit und Wohlwollen mindern seine Ängste und können es ermutigen, seinen Kräften zu vertrauen und eigene Wege zu versuchen.

Konkret heißt dies, eine freundliche Familienatmosphäre zu schaffen, sich dem Kind mehr zuzuwenden, miteinander zu spielen oder Vergnügungen zu teilen, auch im musischen Bereich, daneben aber Zeit und Freiraum für jeden einzelnen zu ermöglichen. Statt Verwöhnung hilft dem Kind eher eine „reizarme Erziehung“, in der es sein „eigenes Programm“ suchen muss. Statt einer Flut von Spielzeugen kann man gezielte Angebote auswählen. (11) Fernsehsendungen kann man gemeinsam aussuchen und hinterher über sie sprechen. Überhaupt scheint ein gemeinsames Gespräch eines der besten Mittel zu sein, in Ruhe miteinander umzugehen und dem Kind Anregungen zu geben, über sich nachzudenken und eigene Vorstellungen zu entwickeln.


Was hier über den Umgang von Eltern mit ihren Kindern gesagt wurde, dürfte sich auch auf die Situation eines Lehrers übertragen lassen, dem es gelingt, eine ruhigere Arbeitsatmosphäre aufzubauen und der nicht die Kinder durch ständige eigene Aktivität verwöhnt, sondern ihnen hilft, selbständig zu denken und arbeitsfähiger zu werden.


Eine der schönsten Formen gemeinsamer Muße dürfte es sein, miteinander zu feiern und die Zeit dabei zu genießen. Denn „einige der emotional am stärksten benachteiligten Menschen, die ich jemals gesehen habe, sind jene, deren Dasein, als sie Kinder waren, nicht durch Ereignisse wie Geburtstagseinladungen gefeiert worden war“, weil die Erwachsenen dies als albern oder als Verschwendung angesehen hatten. (12)



Literatur

(1) Ursula Voß (Hrsg.), Kindheiten, München 1979, S. 163.

(2) Jay B. Rohrlich, Arbeit und Liebe, Frankfurt a.M. 1984, S. 68 – 69.

(3) Bertrand Russell, Eroberung des Glücks, Frankfurt a.M. 1982, S. 46.

(4) Josef Rattner, Erziehe ich mein Kind richtig? Frankfurt a.M. 1978, S. 76.

(5) Johan Huizinga, Homo Ludens, Reinbek b. Hamburg 1981, S. 37.

(6) Walter J. Schraml, Einführung in die moderne Entwicklungspsychologie, Frankfurt a. M. 1980, S. 410 – 424.

(7) Rohrlich (1984), S. 59.

(8) Maria Winn, Kinder ohne Kindheit, Reinbek b. Hamburg 1984.

(9) Vgl. STERN Nr. 35/84.

(10) Heinz Hengst, Kindheit als Fiktion, in: DIE ZEIT Nr. 41/74.

(11) Schraml (1980), S. 423: Empfehlungen des „Arbeitsausschusses Gutes Spielzeug“

(12) Rohrlich (1984), S. 63.

Montag, 22. Juni 2009

Reminiszenzen - Heilpädagogik und Unterricht

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Eine schwere Geburt! Ich habe nicht geahnt, wie viel Arbeit es mir machen würde, dieses alte Manuskript in eine lesbare Form zu bringen. Vom Anliegen her lohnt es sich, denn hier steht meine ganze „Weltanschauung“ zum Thema „Ausbildung von Fachleuten/Praktikern im psychosozialen Bereich“ drin, also eine Menge „Herzblut“ und grundlegende Überzeugung, die ich auch heute (Juni 2009) noch teile. Leider ist vieles meiner Ausführungen Programm geblieben, da ich an meiner Schule zwar den Ruf als „Adler-Fan“ weghatte, damit aber trotzdem weitgehend ein Einzelkämpfer blieb und meine Kollegen nicht für eine wirkliche Zusammenarbeit gewinnen konnte. Die Ausbildung blieb m. E. weiterhin überwiegend „kopflastig“/kognitiv.

Heilpädagogik und Unterricht im Blickwinkel der Individualpsychologie



Referat von Jürgen Lüder auf der Klausurtagung der Korczak-Schule am 15.1.2000

(anschließende Verschriftlichung des Manuskripts unter Berücksichtigung der Diskussion im Kollegium)



Liebe Kolleginnen und Kollegen,


das Thema „Heilpädagogik und Unterricht“ beschäftigt mich – mit Unterbrechungen – schon seit 20 Jahren, denn es hat mich seit meiner Fachschullehrerzeit in einer ähnlich gelagerten westdeutschen Schule nie ganz losgelassen. Für mich sind seitdem Fragen entstanden, auf die ich weiterhin vernünftige Antworten suche. Dazu will ich heute meine ganz subjektiven Aussagen machen und deshalb keinen Fachvortrag z.B. über heilpädagogische Psychologie halten.


Ein Problem ist dabei für mich, dass ich kein Heilpädagoge bin, kein spezieller Fachmann. Wie kann ich da der Aufgabe gerecht werden, etwas zur Qualifizierung von Fachkräften einer anderen Disziplin glaubwürdig beizutragen?



Zwei grundlegende Gesichtspunkte zur Heilpädagogik


Bei meinen Versuchen, mir ein Verständnis von Heilpädagogik anzueignen, ergaben sich für mich zwei grundlegende Gesichtspunkte:


  1. Ich sehe Heilpädagogik als eine Fachdisziplin, die wie jede andere Spezialwissen erfordert und dabei, wie alle anderen pädagogischen Fachrichtungen auch, aus Nachbargebieten schöpft, also unter anderem auch auf psychologisches Wissen zurückgreift. Da könnte ich, mit neumodischer Wortwahl, bei der es mich persönlich aber graust, ein Modul „psychologisches Grund-/Spezialwissen“ beisteuern, so als setzte sich Heilpädagogik aus unabhängigen Bausteinen zusammen. (vgl. Anmerkung 1)


  1. Als zweiten Gesichtspunkt möchte ich nennen, dass mir Heilpädagogik immer verbunden mit einem besonderen, typischen Berufsethos erschienen ist. Es geht um eine ganz bestimmte Grundhaltung der Aufgabe des „Heilens“ / „Helfens“ / „Förderns“ / meinetwegen, mit einem moderneren Ausdruck belegt, auch des „Assistierens“ gegenüber, sehr engagiert, aber nicht eindeutig fassbar (vgl. auch Anmerkung 2).Das war jedenfalls immer wieder dann mein Erlebnis, wenn wir in meiner damaligen westdeutschen Schule als Kollegium gemeinsam mit der jeweiligen HP-Klasse zu den Jahrestagungen der Heilpädagogen nach Bad Lauterberg fuhren.


In den Vorträgen dort stand dann plötzlich der „pädagogische Bezug“, die Gestaltung einer Beziehung zwischen dem Heilpädagogen und den ihm Anvertrauten unter voller Einbringung der Person des Heilpädagogen im Vordergrund, also nicht der Spezialist mit dem detaillierten Fachwissen (das man natürlich auch braucht), der gezielte „Techniken“ anwendet, sondern der Heilpädagoge, der sich selbst als Person voll ins Geschehen mit einbringt und darauf einlässt.


Das hat mich sehr berührt, aber irgendwo auch beruhigt, weil mir plötzlich die Heilpädagogik nicht mehr so fremd war. Es lief nicht mehr so stark auf die Konfrontation „Du bist Heilpädagoge – ich bin Psychologe“ und eine säuberliche Aufteilung der Kompetenzbereiche hinaus, sondern stärker auf ein verbindendes Band des Handelns im Auftrag für die anvertrauten Menschen, nur mit unterschiedlicher Akzentuierung (vgl. auch Anmerkung 3).



Meine Orientierung an der Individualpsychologie


Mir hat seinerzeit zusätzlich geholfen, dass ich begonnen hatte, mich mit der Individualpsychologie Alfred Adlers zu beschäftigen, der von seiner Ausbildung, seinem Wissen und Tun her zwar Arzt und Psychologe war, seine Aufgabe aber besonders auch im pädagogischen Bereich gesehen hat. Eine seiner frühen Schriften heißt z.B. „Heilen und Bilden“! Speziell war er tätig in der Ausbildung von Lehrern und Helfern, damit sie ihr Wissen und Können zum Nutzen der ihnen Anvertrauten weitergeben könnten, in direkter Arbeit mit Kindern, aber auch in der Beratung von Eltern. (Vielleicht würde man das heute „Multiplikatoren-Training“ nennen …)


Von diesem theoretischen Hintergrund, der mich sehr geprägt hat, möchte ich einige Thesen ableiten, die mir besonders am Herzen liegen. Es ist mir allerdings klar, dass ihre Umsetzbarkeit im Rahmen einer Fachschule mit Lehrplänen und Zensuren erschwert ist.



Vier Thesen, formuliert aus dem Blickwinkel der Individualpsychologie


1. These:


Eine Kernaussage von Alfred Adler ist m. E. (sinngemäß zitiert): „Man erzieht mehr durch das, was man [als Persönlichkeit] ist, als durch das, was man weiß.“


Adler hat den Erziehungsbegriff insgesamt sehr weit gefasst, so dass man alle Formen des Beeinflussens subsumieren kann, die auftreten, wenn in einer pädagogischen/therapeutischen Situation ein Mensch einen anderen erziehen/lehren/fördern/therapeutisch beeinflussen/ … will, in einer Situation also, die ich ganz allgemein durch das Verhältnis „Lehrer“ – „Schüler“/“Anvertrauter“ (im weitesten Sinne) charakterisieren möchte (vgl. dazu auch Anmerkung 4).


Das hat natürlich Konsequenzen! Da meine Persönlichkeit also (mit)prägend für das Lerngeschehen ist, ebenso für das heilpädagogische Handeln, muss ich um sie wissen und ihre Wirkung einschätzen können. Ganz einfach formuliert: ich muss mich selbst kennen! Diese uralte Forderung der Psychologie ist in der Praxis allerdings nicht leicht einzulösen: Was für eine Stimmung verbreite ich, welche Erwartungen lasse ich in meinen Umgang mit anderen einfließen, wie vorurteilsfrei kann ich anderen begegnen, welche Bedürfnisse habe ich selbst bei meinem Tun und sorge – unbewusst – dafür, dass sie zum Tragen kommen, … ? Wer weiß das schon wirklich, wenn er ehrlich sich selbst gegenüber ist?


Wie aber vermittelt man solche Selbsterfahrung an einer Schule, deren Lehrpläne vorrangig gefüllt sind mit rein kognitiven Lerninhalten? Das ist sehr schwierig, doch darauf ganz zu verzichten, halte ich für einen schweren Fehler, da zukünftige heilpädagogische Praxis untrennbar mit der „persönlichen Gleichung“ jeder/s Heilpädagogin/en verbunden ist.


Auf der Ebene der Lehrenden ist es nicht anders, denn ich als Lehrer stehe meinen (erwachsenen) Schülern auch in einer derartigen Situation gegenüber. Ich bin ein Modell für sie! Mache ich es ihnen also so vorbildhaft vor, dass sie etwas für ihre eigene spätere Praxis daraus mitnehmen können? Lehrer haben einen solchen Blickwinkel in ihrer Ausbildung meistens nicht gelernt, Psychologen haben da manchmal (je nach Ausrichtung) schon einige Vorteile ...


2. These:


Die Individualpsychologie betont die Ganzheitlichkeit der Persönlichkeit, die das Bindeglied aller Teilaspekte ist. Erst durch die Zusammenschau aller dieser Teilaspekte kann ein „Verstehen“ gelingen, das jenseits eines reinen Anhäufens von Details liegt. Und diese Persönlichkeit hat eine Geschichte, hat sich entwickelt, jetzt einen aktuellen Stand erreicht und wird sich weiter entwickeln, aber immer im Rahmen der von früher mitgebrachten Voraussetzungen. (vgl. Anmerkung 5)


Ich verfolge diese These jetzt nicht weiter unter dem Gesichtspunkt einer einzelnen Persönlichkeit, aber unter der Leitidee eines ganzheitlichen Denkens, das dem Charakter einer so großen Disziplin wie der Heilpädagogik besser gerecht wird. Durch die Aufsplitterung in einzelne Fächer laufen Ausbildungen dagegen leicht in das Anhäufen von unverbundenem Detailwissen hinaus.


Wie könnten wir hingegen an unserer Schule mehr von der oben angesprochenen Ganzheitlichkeit vermitteln, dem sich Ergänzen der verschiedenen Teildisziplinen, die sich einer grundlegenden Gesamtidee unterordnen?


Traditionell „macht“ jeder Kollege sein Fach, wir wissen nur ungenau, was gerade bei anderen „läuft“. In der Tat ist bessere Information mit einem hohen Aufwand verbunden. Es ist ja auch das Anliegen unseres heutigen Treffens, an diesem Punkt mehr Abstimmung zu erzielen.


Könnten wir nicht einen solchen übergreifenden Aspekt richtig in unsere Ausbildungsordnung aufnehmen – und wie!? Dass die Schüler begreifen könnten, dass alles erworbene Wissen einem übergeordneten Zweck dient, dem heilpädagogisch sinnvollen Tun! Manchmal habe ich abschließend von Absolventinnen gehört, jetzt sähen sie auch, wie Fächer sich ergänzten und das Bild sich abrunde. Das fand ich schön! Aber war es bisher nicht eher ein Zufallsprodukt als unsere bewusste Steuerung?



3. These:


Die Individualpsychologie betont die Kooperation zwischen Menschen als Zeichen eines entwickelten „Gemeinschaftsgefühls“, sowohl als Ausdruck für den „Sinn des Lebens“ (so lautet der Titel einer Schrift von Alfred Adler im Sinne einer ethischen Grundlegung) als auch in ihrer Verbesserung als Ziel von Kindererziehung und Psychotherapie. Dabei können Kinder am Beispiel ihrer Eltern, Analysanden am Beispiel ihres Therapeuten erlernen, wie „man so etwas macht“. (Und wen man liebt bzw. wertschätzt, von dem lernt man!!)


Können wir nicht auch etwas davon lernen? Kooperation statt Einzelkämpfertum? Allerdings wird gerade das Letztere von der Berufsrolle eines Lehrers sehr unterstützt und soll überhaupt in „helfenden Berufen“ nicht selten sein. Das hat m. E. W. Schmidbauer, der sich ja mit „Helfern“ intensiv befasst hat, gut beschrieben: In Institutionen sind sich oft die „Helfer“ gegenseitig nicht „grün“ und konkurrieren um ihre Schützlinge. Das könnten wir besser machen!


4.These:


Und „last not least“ ein mir immer wieder wichtiger Punkt:


Die Individualpsychologie sieht, speziell bei Kindern, aber nicht nur bei ihnen!, hinter auffälligem Verhalten die „Entmutigung“, das Aufgeben nützlicher Verhaltensweisen mit sozialer Zielrichtung angesichts fehlender Fertigkeiten und eines nicht mehr zugetrauten Tuns. Deshalb ist für sie die „Ermutigung“ und das Vermeiden entmutigender Handlungen ein vorrangiges pädagogisches Element.


Aber gilt das nur für Kinder ?


Wir alle brauchen „Mut“ für die anstehenden Aufgaben des Lebens, besonders auch die Heilpädagogen, die wir ausbilden, die dann später als vornehmste Aufgabe ihre Betreuten ermutigen sollen zu einer eigenständigen Lebensführung.


Aber kann jemand ermutigen, der selbst entmutigt ist bzw. nie erlebt hat, wie man „das tut“?

Wieweit können wir das unseren Schülern vermitteln und vor allem selbst vormachen? Dass sie sich etwas zutrauen, etwas lernen können, sich aufmachen, diese gute Erfahrung weiterzugeben?


Hierbei habe ich immer große Mühe, denn die Notwendigkeit des Zensierens und damit Klassifizierens (a´ la´ Aschenputtel und den hilfreichen Tauben) erleichtert diese Aufgabe nicht.


[An dieser Stelle habe ich zur Illustration in meinem Vortrag die Geschichte von Helmut erzählt, der als Legastheniker eingestuft war und den ich über Jahre hinweg als Familienhelfer betreut habe. Ich bewundere rückblickend seine Durchhaltekraft und seinen Einsatz, trotz ständiger schulischer Misserfolge nicht aufzugeben und immer weiter zu üben, sicherlich kein Regelfall! Immerhin schaffte er es, in einem „Regeldiktat“ seine Fehlerzahl zu halbieren, eine große Leistung! Aber seine anfänglichen 30 Fehler ergaben eine „6“, seine späteren 15 Fehler waren immer noch eine „6“. Kommentar zur pädagogischen Wirkung überflüssig …]



Nachwort


Im Anschluss an mein Referat haben wir um Fragen der Notwendigkeit eines „Ethos“ diskutiert, ja regelrecht gestritten. Beim Ausarbeiten meines Manuskripts merke ich jetzt selbst, dass derartiges den „roten Faden“ meiner Ausführungen bildet, was ursprünglich gar nicht von mir geplant war! Das gilt sowohl im Hinblick auf einen möglichen „Berufsethos“ von Heilpädagogen, als besonders aber auch auf den Ethos, d.h. den Anspruch, den wir als Lehrkräfte an die von uns vermittelte Ausbildung stellen können/sollten/wollen. Dies ist zu verstehen im Sinne eines übergeordneten Ziels, eines „Sinns“ unserer Ausbildung.


Vielleicht kann man viel davon „operationalisieren“ und einem verbindlichen Lehrplan unterordnen. Ich meine, dass dann aber immer noch eine Menge an Motiven und „gelebtem Leben“ an unserer Schule bleibt, die sie auszeichnet und mir das Gefühl gibt (neben der Möglichkeit, hier meinen Lebensunterhalt zu verdienen), dass hier ein Ort ist, eine Aufgabe, für die ich gerne arbeite und wo ich meine Ideen und mein Engagement einbringen möchte.



Anmerkungen


Anmerkung 1: Ich sehe beim „Denken in Modulen“ die Gefahr, dass ich nur noch meinen in sich abgerundeten „Baustein“ sehe, nicht mehr aber die gesamte Struktur im Auge habe, aus der heraus sich seine Notwendigkeit überhaupt erst ergibt und ihm seine besondere Prägung und Verzahnung verleihen sollte. So wie schon vor langer Zeit die Gestaltpsychologen erkannt haben, dass „das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile“, eine Melodie mehr ist als eine Aneinanderreihung von Tönen. Ohne ein Verständnis der besonderen Merkmale von Heilpädagogik, ihres besonderen „Wesens“, kann ich m. E. nichts wirklich Vernünftiges beitragen. Sehen das die „Modul“- Lehrtechniker anders?!


Anmerkung 2: Ich habe bewusst darauf verzichtet, eine Definition von Heilpädagogik zu versuchen, denn ich möchte mich nicht in die dortige kontroverse Diskussion einschalten, die mich auch überfordert. Ich gehe vielmehr von einem pragmatischen Verständnis aus, wie es sich für mich durch das Zusammentreffen mit Heilpädagogen und der von ihnen benutzten Argumente/Redeweisen ergibt.


Anmerkung 3: Wir haben am Klausurtag auch über die wiss. Heimat von Heilpädagogik diskutiert, damit über ihre „Kernfächer“. M.E. ist für unsere doch ganz pragmatische Ausbildung aber dieses „Handeln“ der Kern- und Angelpunkt. Deshalb würde ich diesen Aspekt in den Mittelpunkt stellen, dem alle Fächer zu dienen hätten.


Anmerkung 4: In der Diskussion kam die Frage auf, ob wir als Schule für erwachsene Schüler überhaupt einen „Erziehungsauftrag“ hätten. In diesem weiteren Sinne, wie oben ausgeführt, halte ich dies nicht für eine Frage, sondern eine Tatsachenfeststellung!


Anmerkung 5: Auch hier trifft wieder die Aussage der Gestaltpsychologie zu, dass alle Teile einer Ganzheit strukturhaft aufeinander bezogen sind! Vgl. Anmerkung 1.

Lieblingszitate XXXIX

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Zum Wochenbeginn ein Zitat, das auf den ersten Blick den Eindruck vermittelt, ganz unbeschwert und leicht wie eine Feder durch die Luft heranzuschweben. Sicherlich wusste aber bereits Voltaire, dass sein Rezept stichhaltig, aber nicht so leicht umzusetzen ist … Die Psychosomatik lässt grüßen! Ein schönes Projekt!


Da es sehr
förderlich
für die
Gesundheit ist,
habe ich
beschlossen,
glücklich zu sein.

VOLTAIRE


Ein Voltairekenner könnte vielleicht noch einen Fundort aus seinem Werk angeben, damit bin ich überfordert. Ich verdanke diese Aussage vielmehr einer Glückwunschkarte, nämlich einer von Nele Andresen „glücklich zu sein“ (erschienen bei www.inkognito.de).

Freitag, 19. Juni 2009

Rückmeldung zu meinem blog

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Eine liebe Freundin meiner Frau liest regelmäßig meinen blog und hat mir über eine Email eine Rückmeldung gegeben. Ihr gefiel die Vielseitigkeit meiner Themen, nur meine gewerkschaftlichen „Auslassungen“ waren für sie nicht so interessant. Ich habe ihr gern geantwortet, denn es war eine schöne zusätzliche Gelegenheit, darüber nachzudenken, was ich hier auf meinem blog eigentlich anstelle.


Liebe U.,

Deine Mail hat mich sehr gefreut, denn Rückmeldungen auf meinen blog hin bekomme ich nur selten – und dann auch noch so positiv!

Mir macht das Schreiben einfach Spaß, z. T. ist es ein Ersatz fürs Tagebuch, außerdem eine wunderbare Chance, über mich nachzudenken und mir selbst über meine Meinung zu bestimmten Themen klarer zu werden. Bei anderen Leuten klärt sich manches im Kopf beim Reden, bei mir funktioniert das auch beim Schreiben! Um so besser, wenn ich auch von Menschen weiß, die das dann auch noch lesen mögen!

Gewerkschaftsangelegenheiten können wirklich manchmal recht „dröge“ sein, mein „Herzblut“ ist auch eher bei literarischen und psychologischen Themen. Aber nach meinen mehrjährigen Erfahrungen in der Mitarbeitervertretung weiß ich um die Bedeutung dieser Fragen. Deshalb widme ich mich ihnen weiterhin und habe außerdem für meinen Ärger über viele soziale Ungerechtigkeiten in unserem Land mit diesem blog ein Ventil, über den ich meinen Unmut herauslassen kann.

Ich bin dabei, meine Beiträge nach Themenkreisen zu sortieren, so dass Du zukünftig leichter Altes finden könntest ohne Gewerkschaftsthemen …

Noch einmal vielen Dank und herzliche Grüße von Jürgen

"Wenn sich die Zeiten verdunkeln ..." - die Psychologie und der Zeitgeist

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Wenn sich die Zeiten verdunkeln, orientiert sich die Psychologie immer eher an der Biologie als an den Sozialwissenschaften.


Mit diesen Worten zitierte Bernd Matthies im Tagesspiegel v. 28.2.1999 den Bremer Psychologie-Professor Thomas Leithäuser aus dessen Einführungsrede für einen Psychologen-Kongress (vgl. Quelle 1). Ähnliche kritische Äußerungen hatte ich auch schon von anderen Autoren gehört, aber ich finde, Thomas Leithäuser bringt es exakt „auf den Punkt“: psychologische Studien zu lebensgeschichtlichen Entwicklungen von Menschen, deren kulturellen Hintergründen und Beeinflussungsmöglichkeiten sind eher „out“, Studien über genetische Einflüsse auf menschliches Verhalten und seine Steuerung durch Gehirnprozesse, denen sich die höchst populären Neurowissenschaften widmen, hingegen mit ansteigender Tendenz „in“. In meiner Studentenzeit war das noch eher verpönt, es gab aber auch noch nicht die heute so ausgereiften medizin-technischen Untersuchungsinstrumente. Die Psychologen reklamierten damals einen eigenständigen Forschungsgegenstand und tadelten Versuche, psychische Erlebens- und Verhaltensweisen und deren Sinnstrukturen ausschließlich naturwissenschaftlich über Biologie und Physiologie erklären zu wollen, als unzulässig verkürzenden „Reduktionismus“.


Über dieses Problem wird in Fachkreisen auch heute weiterhin gestritten. In der Öffentlichkeit hingegen dürfte hauptsächlich der „Sieg“ der Neurowissenschaften angekommen sein. Er würde ein einfachereres Menschenbild nahe legen, das schon immer populär war: Nicht wir selbst sind es, die sich mühsam ihr Lebensschicksal erarbeiten und selbstverantwortlich „daran stricken“, nein, hauptsächlich bestimmen von uns kaum beeinflussbare Gene und Gehirnstrukturen, wie wir wirklich „ticken“. Das ist zwar irgendwie deprimierend, gleichzeitig aber auch entlastend, weil niemand mehr dafür verantwortlich gemacht werden könnte, dass er nicht „über seinen Schatten springt“.


Ist ein Mensch so nicht auch viel besser ökonomisch planbar und einsetzbar? Hier beginnt für mich das, was Thomas Leithäuser mit seiner „Verdunkelung der Zeiten“ gemeint haben könnte. Nicht mehr mühsame lebenslange Bildung steht im Vordergrund, sondern die schnelle Verwertung der „Intelligenz-Reserven“ in zügigen Studiengängen a´ la´ „Bologna“, die der Wirtschaft tüchtige Nachwuchskräfte zur Verfügung stellt, die dafür viel Wissen angehäuft haben sollen, aber nun wirklich nicht im Reflektieren ihrer Lebensgeschichte geschult sein müssen! Und: Die guten Gene werden sich durchsetzen! Warum soll der Staat soviel Geld für die Förderung der anderen ausgeben? Das war in meiner Studentenzeit anders, als Regierungen in Westdeutschland noch anstrebten, die Studentenquoten bei Kindern von Arbeiterfamilien/ ärmeren Schichten anzuheben. Aber das ist doch auch schon 40 Jahre her, „Schnee von vorvorgestern“! Und viel zu teuer! Das Geld wird viel dringender gebraucht zur Finanzierung des Banken-Rettungs-Schirms! (Ich kann bei diesem Thema nur polemisch sein, Entschuldigung!)


In Wirklichkeit vertreten Neurowissenschaftler mittlerweile viel differenziertere Standpunkte. Z.T. kam es zu einer regelrechten „Rehabilitation“ der Freudschen Theorie vom Unbewussten (vgl. Quelle 2). Auch die Verschränkung der Wirkung von Genen mit Umwelteinflüssen ist heutzutage eine selbstverständliche Sichtweise (vgl. Quelle 3).


Dennoch kann ich eine gewisse Genugtuung (als ausgewiesener Anhänger einer lebensgeschichtlich – „verstehenden“ Psychologie) nicht verhehlen, als ich vor zwei Tagen eine kleine Nachricht im Tagesspiegel fand, die einmal mehr bestätigt, dass wir nicht so ganz einfach über unsere Gene erklärt werden können. Ich schreibe sie in Auszügen ab (Quelle 4):


Depression: Das Risikogen, das keines war

2003 glaubten Forscher, eine Genvariante gefunden zu haben, die zusammen mit belastenden Lebensereignissen das Depressionsrisiko erhöht. Jetzt stellt sich heraus, dass diese Erbanlage diese Gefahr doch nicht erhöht. Das ergab eine umfassende Untersuchung der 14 Studien, die sich bisher mit dem Risikogen befassten. [ … ] Das verdächtige Gen enthält den Bauplan für ein Serotonin-Transportereiweiß. Serotonin ist ein chemischer Bote für bestimmte Nervenzellen im Gehirn, der für das Gefühlsleben wichtig ist. Die „verdächtige“ Spielart des Serotonin-Transportergens ist weniger aktiv und wurde deshalb mit dem Risiko für Depressionen in Verbindung gebracht. wez

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Quelle 1: Bernd Matthies: Wo Ich war, soll Es werden. Wie sich Psychologen den Gefühlen nähern. In: Tagesspiegel v. 28.2.1999


Matthies schreibt über den Kongress der „Neuen Gesellschaft für Psychologie“ über „Das sogenannte Gefühl“. Gut kommen Psychologen in seiner Beschreibung dieser „Zunft“ nicht gerade weg … Vielleicht ist es aber auch Selbstironie, denn der Verfasser kennt sich gut aus und könnte vielleicht selbst dazu gehören …


Quelle 2: Es gibt darüber viele Veröffentlichungen. Ich habe z. Zt. nur einen älteren Text zur Hand, den ich aufführen kann, und zwar ein Interview mit dem bekannten Hirnforscher Gerhard Roth:


„90 Prozent sind unbewusst“. Unser Ich täuscht sich, wenn es meint, Herr im eigenen Haus zu sein. Die moderne Neurobiologie stützt Freuds Theorie vom Unbewussten: Wir werden vom Es, von unterschwelligen Gefühlen und Motiven gesteuert. Ein Gespräch von Ulfried Geuter mit dem Bremer Hirnforscher Gerhard Roth. – In: Psychologie Heute. Februar 2002. S. 44 – 49.


Quelle 3: Ich kenne am besten das folgende empfehlenswerte Buch von Joachim Bauer. Dieser Autor hat sich auch verdienstvoll der Burn-Out-Gefährdung von Lehrern angenommen und über die „Spiegel-Neuronen“ als biologische Grundlage der Einfühlung und des Verstehens geschrieben.


Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. – Frankfurt a.M.: Eichborn Vlg. 2002.


Quelle 4: In: Tagesspiegel v. 17.6.2009

Donnerstag, 18. Juni 2009

Was mich zum Grübeln bringt oder zornig macht

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Eine schwere Entscheidung, mich heute auf ein Thema für meinen blog festzulegen! Es passiert so viel, was mich entweder zum Grübeln bringt oder mich zornig macht über die „Mächtigen im Lande“, die die Weisheit gepachtet haben und sich an ihr, immun gegen jegliche Kritik, felsenfest anklammern. Vieles davon ist aber offensichtlich so hoch komplex, dass ich mir eingestehen muss, von den wirklichen Ereignissen und Hintergründen zu wenig Ahnung zu haben, um ein fundiertes Urteil abzugeben. So bleibt es bei meiner Meinung.


Das gilt besonders für die Vorgänge im Iran. Tagesschau und große Zeitungen vermitteln ein Bild, als würde endlich im Iran um demokratische Freiheiten gekämpft, so als verbinde dieser Aufruhr das Land wieder mehr mit „westlichen Werten“. Hoffen die Menschen bei uns nicht auf einen Erfolg dieser Bewegung gegen den hemdsärmeligen Judenfeind Mahmud Ahmadineschad? Hinzu kommt, dass sich die iranische Regierung bewährter „Keulen“ aus dem Arsenal autoritärer Regimes bedient wie schon die Chinesen bei den Olympischen Spielen: Pressezensur, Kappung des Internets, massive Propaganda aus den gleichgeschalteten Staatsmedien, von Verhaftungen ganz zu schweigen. Ein schlechteres Bild von sich kann ein Staat vor der Weltöffentlichkeit kaum verbreiten! Der eigenen Bevölkerung gegenüber ist das aber sehr wirkungsvoll … - Andererseits habe ich auch kritische Stimmen gehört, Mir Hussein Mussawi sei alles andere als liberal oder ein Demokrat gemäß unseren Vorstellungen, er sei vielmehr in seiner früheren politischen Praxis eher konservativ bis reaktionär gewesen und völlig konform zur Islamischen Republik. Das hat mich sehr nachdenklich gemacht und mir mein völlig unzureichendes Wissen um die tatsächlichen Ereignisse und Bedingungen im Iran aufgezeigt. (Denn stimmte das alles, wäre es nicht unähnlich der Situation von Odysseus zwischen Skylla und Charybdis …)


Zusatz vom 21.6.09: Meine Aufzählung von "Keulen" ist natürlich bei den zwischenzeitlichen Ereignissen und Toten eine absolute Verharmlosung der Probleme. Das Regime zeigt sich von seiner schrecklichsten Seite, seine Gewalt ist für mich verabscheuungswürdig und es büßt alle Glaubwürdigkeit ein, wenn es nur noch auf diese Weise "Kurs halten" kann. Dennoch bleibt meine Aussage bestehen, dass mir die Vorgänge insgesamt äußerst undurchsichtig bleiben.


Das andere heutige Thema, das mich bewegt, viel näher an uns, ebenso mit dem Bild großer Proteste, sind die Veranstaltungen des bundesweiten Bildungsstreiks. Gut zu wissen, dass sich auch wieder junge Leute engagieren und nicht alles hinnehmen, wie in unserem Land Bildung „vermarktet“ wird! Bis hin zu „Schulleitern als Manager […], Schüler und Eltern als Kunden, Schulabschlüsse als Produkte“ (vgl. Quelle 1).


Vielleicht ist es eher ein Lob für die derzeitige Protestbewegung, dass sie von konservativen bis rechten Kräften dafür gescholten wird: „CDU-Bildungsexperte Stefan Müller warf den Organisatoren vor, sie wollten ‚arglose Schüler und Studenten als Statisten für öffentlichkeitswirksame Wahlkampf-Events der Linken’ gewinnen“ (vgl. Quelle 2). Auch die zuständige Ministerin hat wenig Verständnis für die jungen Leute. Deren Ziele seien „zum Teil gestrig“, kritisierte Annette Schavan (CDU). Bachelor- und Masterstudiengänge im Rahmen des „Bologna-Prozesses“ seien alternativlos (vgl. Quelle 3). Auch der Philologenverband soll sich in ähnlicher Weise geäußert haben. („linksgesteuerter Aktionismus ohne Nachhaltigkeit“, vgl. Quelle 4.)


Und sei´s drum! „Europa“ in seinem derzeitigen Brüsseler Zustand ist halt sehr neoliberal geraten, so wie das stromlinienförmige „Bologna-Produkt“! Aber kann man nicht um dessen weitere Ausgestaltung und mögliche Reform streiten? Spätestens lässt mich das Wort „alternativlos“ aufhorchen, es ist hochmütig, klingt sehr verdächtig nach Manipulation und Erpressung, denn es erklärt Gegner zu „Deppen“, die davon überfordert sind, die Zusammenhänge in dieser Welt noch zu begreifen. Und: Gehörte es nicht zum Wortschatz aller neoliberalen Ideologen und Gläubigen, die uns über Jahre weismachen wollten, nur ein Umbau unseres sozialen Lebens in ihrem Sinne könne unserem Volk eine Zukunft sichern, und die uns deshalb z.B. HARTZ IV bescherten?


Quelle 1: junge Welt, 17.6.09, Artikel von Gitta Düperthal

Quelle 2: Tagesspiegel, 17.6.09

Quelle 3: junge Welt, 18.6.09, Artikel von Claudia Wangerin

Quelle 4: Tagesspiegel, 17.6.09, Artikel von Tilmann Warnecke


Man kann also sehen: Ich lese alles, was mir vor die Brille kommt und habe dabei, toi, toi, toi, bisher noch keine ideologischen Scheuklappen …

Montag, 15. Juni 2009

Lieblingszitate XXXIX

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Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Bin ich um den Schlaf gebracht.

HEINRICH HEINE


Aus: Nachtgedanken


Als Heine dies vor etwa 150 Jahren schrieb, litt er als demokratisch gesinnter Mensch unter der deutschen Kleinstaaterei, reaktionären Fürsten, die Menschen wie ihn verfolgten, und unter bornierten Mitbürgern. Aber auch heute würde er sicherlich seine Stimme erheben! Seine Worte sind sehr aktuell!

Zwar gibt es heute im Gegensatz zur Heine-Zeit wirklich „ein“ Deutschland – allerdings in einem besorgniserregend schrecklichen Zustand, in den es die bestimmenden Politiker in ihrem neoliberalen Umgestaltungswahn in den letzten Jahrzehnten heruntergewirtschaftet haben.

Lieblingszitate XXXVIII

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Heinz Berggruen hat seine berühmte Gemäldesammlung moderner Klassiker als Leihgabe in die Ausstellung im Stülerbau, Berlin-Charlottenburg, eingebracht. Ich finde seine Einstellung mustergültig, seinen Besitz der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ein echter Mäzen!


„Erst die Tatsache, dass meine Bilder an einem öffentlichen Ort gezeigt werden, bedeutet, dass sie auch atmen.“

HEINZ BERGGRUEN



Zitiert nach FOCUS 36/1996, S. 140.

[Aufgenommen in meine Sammlung am 10.9.1996.]

Donnerstag, 11. Juni 2009

Von allen guten Geistern verlassen ...

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Peter Handke wurde bekannt durch das Theaterstück „Publikumsbeschimpfung“. Ich kenne es nicht, außer dem Titel, der das tatsächliche Agieren der Schauspieler sehr gut beschreiben soll. Ich habe mich aber schon immer gefragt, wie ein Publikum freiwillig so etwas aufsucht und bei dieser Abstrafung stillhält. Gut, Handkes Zuschauer waren wohl eher Intellektuelle – oder Bildungsbürger, die bereit oder neugierig oder masochistisch genug waren, auch diese „moderne“ Variante von Literatur/Theater kennen lernen zu wollen bzw. über sich ergehen zu lassen.


Fürs breite Publikum eignet sich das Verfahren wahrscheinlich weniger …


Und so sehe ich eher das Gebot für mich, mit verhaltenen Worten auf die Ergebnisse der Europawahl zu reagieren. Mit Intelligenz und Klugheit lassen sie sich m.E. allerdings nicht erklären. Vielleicht eher mit Ängsten und der Beharrlichkeit, in der Not lieber auf die alten Kräfte zu vertrauen. „Die da oben werden´s schon machen“ vielerorts, wie bei uns. Zusätzlich gab es noch reichliche Proteststimmen für Rechts (die doch auch schon immer auf „starke Männer“ gesetzt haben) in etlichen anderen EU-Ländern; glücklicherweise konnten die Rechten allerdings bei uns in Deutschland nicht punkten.


D.h. in der Krise wird den konservativen Kräften und den Wirtschaftsliberalen, die durch ihre einschlägige Ideologie vom Markt und seinen selbstheilenden Kräften und der entsprechenden politischen Lenkung das neoliberale Desaster wesentlich mit hervorgerufen haben, noch am ehesten zugetraut, gleichzeitig unsere besten „Retter“ zu sein.


Ich habe schon vor einiger Zeit an dieser Stelle an Münchhausen und seine Rettungsaktion gegen das Versinken im Sumpf erinnert …


Diejenigen, die zu Gunsten der breiten Bevölkerungsmehrheit für stärkere staatliche Eingriffe und eine bessere Regulierung der Finanzmärkte eintraten, wurden eher abgestraft. Sind ihre potentiellen Wählergruppen überhaupt nicht wählen gegangen oder haben sie noch nicht begriffen, um was es geht und was ihnen bevorsteht – die Zeche begleichen!! - ?


Armes Europa,auf welche soziale Zukunft steuern wir zu?


Tagesgeschäfte

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sind nicht so recht meine Sache. Mit aktuellen Berichten oder schnellen Stellungnahmen zu wichtigen Ereignissen klappt es bei mir nur sehr holprig. Das mögen mir meine Leser nachsehen. So kommt manches „zwischendurch“ oder schon etwas losgelöst vom ursprünglichen Ereignis – oder ich müsste es ganz fallenlassen und mich auf „zeitlose“ Anmerkungen beschränken. Heute meine ich hiermit insbesondere meinen Kommentar zu den Ergebnissen der Europawahl vom vergangenen Sonntag. (vgl. im blog „Von allen guten Geistern verlassen …“)