Dienstag, 19. Mai 2009

Mobiles

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Wie unterschiedlich doch Menschen sein können! Ich lerne da nicht aus, manchmal allerdings ist es sehr verblüffend und ich muss an mir arbeiten, ganz andere Denk- und Gefühlsmuster zu akzeptieren.

Ein Beispiel, das mich – als Symbol für den Zustand der Beziehung zwischen mir und einem früheren Chef – zeitweilig sehr beschäftigt hat:

Seit meiner Jugend, es sind jetzt sicherlich bald 50 Jahre her, liebe ich Mobiles. Meine erste Bekanntschaft war gleichzeitig die mit dem schönsten Exemplar, das ich jemals gesehen habe. Es hing in der Hamburger Kunsthalle und stammte von dem Amerikaner Calder, der durch die Konstruktion solcher kunstvollen Gebilde Weltruhm erlangt hatte: bei jedem zarten Lufthauch in anmutiger Bewegung, nie ganz stillstehend, sich um eine oder mehrere seiner vielen Achsen drehend, den so beschriebenen Raum ausfüllend, aber nie überschreitend. Keine Erdenschwere, alles ganz spielerisch. Gar nicht satt sehen konnte ich mich an diesem Objekt, habe lange vor ihm verharrt und es bei späteren Ausstellungsbesuchen immer wieder aufgesucht. Als kleiner Abglanz hängen jetzt bei uns zu Hause mehrere Mobiles, keine großen Kunstwerke, aber sie haben mit Calders Meisterwerk den Zauber gemeinsam, in ständiger Bewegung Ruhe auszustrahlen, die eine angenehme Wirkung auf meine innere Verfassung hat.

Ähnlich beruhigend erlebe ich auch immer wiederkehrende Bewegungen und Geräusche von Wasser: die Fontäne im Stadtpark hier in Fürstenwalde, in deren Gischt sich bei Sonnenschein ein Regenbogen bildet, auflaufende Wellen am Meer bei einer zarten Brise, am schönsten aber der Römische Brunnen auf der Pfaueninsel im Wannsee, bei dem das Wasser von einer Schale zur anderen wie in dem Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer herabfließt.


Der römische Brunnen

Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
er voll der Marmorschale Rund,
die, sich verschleiernd, überfließt
in einer zweiten Schale Grund;
die zweite gibt, sie wird zu reich,
der dritten wallend ihre Flut,
und jede nimmt und gibt zugleich
und strömt und ruht.

Conrad Ferdinand Meyer

Ruhe durch und in Bewegung, das hat auf mich eine meditative Wirkung. An diesem Brunnen könnte ich stundenlang sitzen, in mich „hineinträumen“, Gedanken hochkommen lassen, reflektieren …

Doch zurück zu den Mobiles. Eine ganz neue Deutung habe ich von einem Kollegen kennen gelernt, der sich ausführlich mit systemischer Therapie und Pädagogik beschäftigt hatte. Alle Elemente gehören in ein System, keines kann sich völlig unabhängig machen. Denn gleichzeitig hat jeder Bewegungsimpuls eines Teils Auswirkungen auf alle anderen, die in irgendeiner Weise reagieren werden: Wenn ein Element seinen Lauf ändert, ändern alle anderen ihn auch. Ein derartiges System füllt seinen eigenen Raum. Wer kann ihn verlassen? Ein Mobile-Element jedenfalls nicht. Wie sieht es mit „Freiheit“ in anderen Systemen aus? Ein neuer Blick auf soziale Wirklichkeiten, die nachhaltige Revolution im Denken der Sozialwissenschaften in den letzten 20 Jahren!

Und noch einmal ganz zurück zum Anfang meines kleinen Textes! Mein Verständnis der Wirkungsweise von Mobiles fand ich so „universell“, dass ich mir andere Deutungen zunächst nicht vorstellen konnte. Deshalb war ich sehr verblüfft, als mir beim ersten Gespräch mit meinem damaligen neuen Chef dieser ein Mobile zeigte, das in seinem Dienstzimmer hing. Es zeige an, belehrte er mich, wie er seine Aufgabe verstünde und – indirekte Botschaft – was er von seinen Mitarbeitern ebenfalls erwarte: Immer in Bewegung sein, nie beim Alten verharren, ständig neue Wege gehen, nicht still stehen. Aktion. – Bei mir ist allerdings angekommen: „Aktionismus“! Mein eher „umtriebiger“ Chef und ich mit meinem Bedürfnis nach Reflexion und dem Kennenlernen intuitiver Kräfte in mir: ein schwieriges Gespann bei klarer Machtverteilung!

Ich denke, alles hat seine Zeit! Ich bin ja kein Mensch, der völlig „in die Innerlichkeit“ gegangen ist. Wenn ich mich für politische Ereignisse, Gewerkschaftsarbeit und kritische Stimmen engagiere, bin ich ja auch im Bereich der Aktionen. Aber nur in Abwechslung auch mit reflexiven Phasen ist mein Leben „rund“. Einen ständigen „Aktionismus“ halte ich für schädlich und eher für den Versuch, sich durch das ständige Reiben an etwas Neuem leichter zu spüren, wenn es auf andere Weise schwierig sein sollte.

Dazu habe ich noch ein wundervolles Zitat, das ich abschließend vorstellen möchte:

„Warum hast du es so eilig?“ fragte der Rabbi. „Ich laufe meiner Lebendigkeit nach“, antwortete der Mann. „Und woher weißt du“, sagte der Rabbi, „dass deine Lebendigkeit vor dir herläuft und du dich beeilen musst? Vielleicht ist sie hinter dir und du brauchst nur innezuhalten.“

Dies ist die Geschichte vom Rabbi Ben Meir aus Berdichev, die ich im Hazelden-Meditationsbuch „Berührungspunkte“ als Text für den 3. März gefunden habe. (In meiner Sammlung seit 1994. )

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