Dienstag, 26. Mai 2009

Noch einmal: romantische Ironie bei Heinrich Heine

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Gar nicht so leicht, mein Versprechen vom letzten blog einzulösen! Ich habe länger suchen müssen, bis ich eine treffende Stelle bei Heine finden konnte, in der er zum Abschluss eines Gedichtes sein vorher selbst aufgebautes romantisches Bild ironisch in Frage stellt. Beim „Seegespenst“ verwendet er dieses Stilmittel.



Auszüge aus dem Gedicht

Seegespenst

Ich aber lag am Rande des Schiffes
Und schaute, träumenden Auges,
Hinab in das spiegelklare Wasser,
Und schaute tiefer und tiefer –
Bis tief im Meeresgrunde,
Anfangs wie dämmernde Nebel,
Jedoch allmählich farbenbestimmter,
Kirchenkuppel und Türme sich zeigten,
Und endlich, sonnenklar, eine ganze Stadt,
Altertümlich niederländisch,
Und menschenbelebt.

[ … ]

Mich selbst ergreift des fernen Klangs
Geheimnisvoller Schauer!
Unendliches Sehnen, tiefe Wehmut
Beschleicht mein Herz,
Mein kaum geheiltes Herz;
Mir ist, als würden seine Wunden
Von lieben Lippen aufgeküßt
Und täten wieder bluten –
Heiße, rote Tropfen,
Die lang und langsam niederfall´n
Auf ein altes Haus, dort unten
In der tiefen Meerstadt,
Auf ein altes, hochgegiebeltes Haus,
Das melancholisch menschenleer ist,
Nur dass am untern Fenster
Ein Mädchen sitzt,
Den Kopf auf den Arm gestützt,
Wie ein armes, vergessenes Kind –
Und ich kenne dich, armes vergessenes Kind!

So tief, meertief also
Verstecktest du dich vor mir
Aus kindischer Laune,
Und konntest nicht mehr herauf,
Und saßest fremd unter fremden Leuten,
Jahrhundertelang,
Derweilen ich, die Seele voller Gram,
Auf der ganzen Erde dich suchte,
Und immer dich suchte,
Du Immergeliebte,
Du Längstverlorene,
Du Endlichgefundene –
Ich hab´ dich gefunden und schaue wieder
Dein süßes Gesicht,
Die klugen, treuen Augen,
Das liebe Lächeln –
Und nimmer will ich dich wieder verlassen,
Und ich komme hinab zu dir,
Und mit ausgebreiteten Armen
Stürz´ ich hinab an dein Herz –

Aber zur rechten Zeit noch
Ergriff mich beim Fuß der Kapitän
Und zog mich vom Schiffsrand
Und rief, ärgerlich lachend:
„Doktor, sind Sie des Teufels?“


HEINRICH HEINE

In: Buch der Lieder, Die Nordsee



Sicherlich von Wortwahl und Stimmungslage her nicht gerade der heutige Zeitgeschmack, sicherlich auch nicht unbedingt das stärkste Gedicht von Heine. Aber ein frappiererndes Stilmittel!

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