Freitag, 5. März 2010

Frau Käßmanns Rücktritt

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Jetzt bin ich fast 63 Jahre alt geworden und habe mich längst von den „weißen Riesen“ und „bösen Teufeln“ meiner Kindheit verabschiedet. Das war ein sehr, sehr langer und schmerzlicher Entwicklungsprozess, in dem ich lernen musste, dass Vorbilder Vorbilder bleiben können, auch wenn sie Fehler haben, und dass auch ich mich noch akzeptieren kann, auch wenn mir vieles viel weniger perfekt gerät, als ich es mir vorgenommen hatte. Das ist nach einer depressiv getönten Kindheit mit hohen moralischen Ansprüchen gar nicht so einfach…


So kann ich Personen öffentlichen Zuschnitts und Institutionen mittlerweile zugestehen, dass auch sie Fehler machen, sich irren können, „die Weisheit nicht immer mit Löffeln gegessen haben“ müssen, ohne dass ich sie gleich total abwerten muss. Das fand früher in meiner kindlichen Weltsicht mit der praktischen Trennung zwischen Engeln und Teufeln nämlich noch schnell statt und verwirrte mich total, wenn es statt weiß oder schwarz nur graue Zwischentöne gab. Heute weiß ich, dass dies der Normalzustand ist und wahrscheinlich sogar nur dieses Grau existiert, wenn auch in den verschiedenartigsten Schattierungen. Also: Ich werfe es niemandem mehr vor, „grau“ zu sein, vorausgesetzt aber, dass er noch bereit ist, Fehler einzugestehen und dazu zu lernen und nicht dogmatisch auf dem Rechthaben zu beharren.


Vor diesem Hintergrund ist der Rücktritt eine ehrenwerte Entscheidung von Frau Käßmann. Wer weiß, was ihr alles zugesetzt haben mag; das Leben in einer derartigen Spitzenposition in der Öffentlichkeit kostet wahrscheinlich einen hohen Preis und kann Menschen verschleißen. Aber traurig finde ich es doch! Denn sie war angetreten mit einem hohen ethischen Anspruch und belebte die öffentliche Diskussion durch neue Farben… Wer wird ihr folgen? Gibt es jemand, der ebenso Charisma und gute Ideen hat?


Traurig ist es zusätzlich, weil ohnehin im Augenblick die verschiedensten Institutionen unserer Gesellschaft mit Anerkennungsproblemen und z. T. selbst inszenierten Dramen zu kämpfen haben, hier eine kleine Auswahl für die demolierte Moral auf verschiedenen Ebenen:

- Die katholische Kirche wird erschüttert durch die bekannt gewordenen Missbrauchsfälle durch Priester.

- Etwas älter, aber immer noch nicht bereinigt: Der Protest früherer Heimkinder, die nach dem Krieg viel Unrecht erleiden mussten. (Das trifft hauptsächlich wiederum kirchliche Einrichtungen.)

- Dass es in der Politik weniger ehrenvoll zugeht, verwundert niemand, aber es vermehrt die Politikverdrossenheit der Bürger. Ich sehe hier einerseits die Tiraden von Herrn Westerwelle, daneben aber auch die Unglaubwürdigkeit von Ministerpräsidenten, die sich von Sponsoren für Gespräche bezahlen ließen.

- Dass in der Wirtschaft belogen und "besch." wird, erstaunt wohl niemand mehr. Das Problem ist wahrscheinlich eher, dass es alle auch mittlerweile schon erwarten und niemand sich mehr aufregt, wenn die gerade mit Hilfe der Allgemeinheit geretteten Banken bereits wieder zocken. Irgendjemand brachte vor kurzem den Hinweis auf die „Bananenrepublik“, in die sich unser Land allmählich zu verwandeln scheint.

- Und Hinz und Kunz "besch." ebenfalls den Staat. Das geht bei Schwarzarbeit los, obwohl es sich im Einzelfall dann doch wohl noch immer um überschaubare Beträge handeln dürfte, und endet in Nummernkonten der Betuchteren mit Schwarzgeld in der Schweiz oder anderen Oasen. Wer zurzeit über die Zustände in Griechenland die Nase rümpft, kann auch bei uns eine Geruchsprobe machen.


Was soll das Ganze? Ich will nicht die ganze Gesellschaft mies machen, wie es Herr Westerwelle mit seinem Dekadenz-Vorwurf gemacht hat. Es gibt nämlich in den verschiedensten Institutionen engagierte und hervorragende Leute mit bester moralischer Integrität. Aber ich denke, sie haben es eher schwer in unserer Zeit, in der man in die Schlagzeilen leichter über „halbseidene Eigenschaften“ gerät. Besonders schwer aber dürften es die jungen Leute haben, die den Verzicht auf die „weißen Riesen“ noch nicht vollziehen konnten und bei allem „Grau“ in der Realität enttäuscht einen Bogen um Politik und Institutionen machen und im Privaten bleiben.

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