Mittwoch, 1. Juli 2009

Reminiszenzen: Das ängstliche Kind

.

Noch ein älterer Text von mir! Mit viel „Herzblut“ geschrieben, nicht aber in einer Sprache, wie ich sie heute wählen würde, halt ganz orthodox „Adlerianisch“, m. E. dennoch immer noch lesenswert! Dem Schreiber von damals fehlt offensichtlich noch die Leichtigkeit, der Humor und gelegentliche „Biss“, durch den das Leben neben allen ängstlichen Bahnen auch spannend und farbig wird. Offenbar habe ich etwas dazugelernt! Zumindest kann ich heute so etwas wahrnehmen.


Trotzdem ist es schade, dass mir langsam meine „Konserven“ an älteren Texte ausgehen, denn in jedem dieser Texte, gleich welcher sprachlicher Qualität, steckte eine Menge Vorbereitung, auch mal eine Nachtschicht. Für neue Texte werde ich deshalb ziemlich fleißig sein müssen! Nachtschichten allerdings werde ich mir nicht mehr antun, dafür fehlen glücklicherweise drängende Abgabetermine, meine Kondition ließe es auch überhaupt nicht mehr zu – und vielleicht der wichtigste Grund: meine Familie braucht mich am nächsten Morgen in einem frischen Zustand, damit unser kleiner Sohn Paul Jakob rechtzeitig in die Schule kommt! Ein völlig anderes Leben als vor 25 Jahren. Dafür belohnt mich Paul Jakob, der sonst große Probleme durch eine schwere Sprachbehinderung hat, durch eine schöne Eigenschaft, die ich im Zusammenhang mit diesem Artikel sehr zu schätzen weiß: er ist wissbegierig, mutig, zwar kein „Draufgänger“, aber gewiss nicht so ängstlich wie sein Vater im selben Alter! Hut ab!

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------


Der folgende Aufsatz erschien erstmalig in dem Themenheft „Erziehungsfragen und Elternberatung“ von MITEINANDER LEBEN LERNEN, Zeitschrift für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie, 10. Jahrgang, H.4. Juli 1985, S. 30 – 33.


Das ängstliche Kind


Jürgen Lüder


Kinderängste sind ein so weit verbreitetes Phänomen, dass der kundige Beobachter sie hinter vielen Tarnungen entdecken kann. Nicht nur das offensichtlich schüchterne und furchtsame Kind leidet unter ihnen. Die vielfältigsten Kinderfehler und Verhaltensauffälligkeiten wie etwa Aggressivität, Aufsässigkeit und Trotz oder Rückzug, Leistungsverweigerung und Schulversagen sind oft nur ein Überbau, durch den sich das Kind vor Ängsten zu schützen sucht.


Während Angst in geringer Stärke geradezu einen Entwicklungsanreiz darstellt, Wege zu ihrer Überwindung zu suchen, führt sie in starkem Maße in eine seelische Sackgasse, da sie das Lernen blockiert: Das eine Kind erstarrt wie gelähmt, während das andere nur die aggressive Verteidigung nach vorn kennt; beides Reaktionen, die eine freie, sachgerechte Entscheidung und das Ausprobieren neuer Verhaltensweisen unmöglich machen.


Am Beispiel eines betont furchtsamen Kindes soll in diesem Artikel untersucht werden, wie es zur Ausbildung starker Ängste kommen kann, wie sie das Lebensgefühl des Kindes prägen und welche Möglichkeiten bestehen, ein solches Kind aus seiner Entwicklungs-Sackgasse herauszuführen.



Joachim, der „Angsthase“


„Meine Mutter nannte mich bevorzugt ihr ‚Häschen’, und ähnlich war auch mein Lebensgefühl: Überall drohten Gefahren, vor denen ich mich nur durch Flüchten zu schützen wusste. Ich wuchs überwiegend unter Erwachsenen auf, auch mein Bruder war sehr viel älter als ich; sie empfand ich als groß und stark, mich als klein und hilflos. Hinzu kam, dass meine besorgten Eltern, insbesondere meine selbst ängstliche Mutter, alle meine Schritte im Auge behielten. So traute ich mir eigenständiges Tun nur wenig zu, und jede Trennung von meiner Mutter versetzte mich in Schrecken. Besonders stark erlebte ich dies bei einem Krankenhausaufenthalt, beim Eintritt in den Kindergarten und in den ersten Schulwochen.


Während mir die Mutter durch ihr Vorbild deutlich machte, dass man vorsichtig und zurückhaltend sein müsse, bewertete sie mein Verhalten anders, wenn es ihr zuviel wurde, dass ich schon wieder weinend zu ihr gelaufen kam. Sie äußerte dann ihre Besorgnis und ihren Kummer, wie es später mit mir weitergehen solle, wenn ich mich nicht wehrte, kaum mit anderen Kindern spielte und auf dem Spielplatz unten am Kletterbaum stehen blieb, während die anderen Kinder fröhlich im Gipfel herumturnten. In der Tat war ich besonders im Sport sehr unbeholfen und hatte in der Schule mehrfach kleine Unfälle, nach denen ich immer verkrampfter wurde; wie gelähmt stand ich vor den Turngeräten. Erst spät lernte ich Radfahren und Schwimmen.


In der Schule war ich nur so lange gut, wie ich den Stoff ohne Mühe bewältigen konnte. Fehler fürchtete ich und traute mich nicht, schlechte Noten den Eltern zu zeigen. Für die Mitschüler blieb ich eher ein Sonderling, den sie in den ersten Jahren wegen seiner Empfindlichkeit gern hänselten. Mir selbst wurden meine Kontaktprobleme erst in der Pubertät bewusst. Jetzt hätte ich gern einen Zugang zu den anderen gefunden, wusste aber keinen Weg, weil mir ihre Interessen und Einstellungen fremd waren. Insgesamt blieb ich auf Erwachsene fixiert, passte mich ihnen brav und altklug an, aggressive Gefühle waren in unserer Familie tabuisiert. Als Spätfolge meiner Erziehung zur Angst sehe ich besonders meine Hemmungen im vitalen Bereich, so dass ich erst durch die Therapie gelernt habe, mir mutiger Kontakt zu erschließen, mich mit meinem Körper durch Sport anzufreunden, auch heftigere Gefühle als mir zugehörig zu erleben und erstmalig wirkliches Leben in mir zu spüren.“



Der Charakter des ängstlichen Kindes


Auch eine andere Familienatmosphäre als diejenige bei Joachim kann ein Kind ängstlich machen, wenn etwa die Eltern sich oft aggressiv und strafend verhalten. Bei ihm treffen aber mehrere Faktoren zusammen, die oft bei der Ausbildung ängstlicher Charakterzüge bei Kindern zu finden sind: Er schildert seine Mutter selbst als ängstlich. Seine starken Trennungsängste beim Verlassen der Mutter deuten auf eine zu enge, symbiotische Beziehung hin, in der es leicht zu Gefühlsansteckungen kommen kann. Atmosphärisch überträgt sich dann die Angst auf das Kind.


Joachim, ein Nachkömmling, wird bei allen seinen Schritten behütet. Dies bedeutet viel Verwöhnung und mangelndes Ausprobieren eigener Kräfte, was ihn dazu verleitet, lieber in der beschützten „Sanatoriumsluft“ der Familie zu bleiben. Er schreckt vor der härteren Umwelt zurück, die in Kindergarten und Schule höhere Anforderungen an Selbständigkeit und Selbstbehauptung gegenüber Gleichaltrigen stellt, und möchte lieber in die Arme der tröstenden Mutter zurücklaufen. Trost allein ohne Ermutigung und Hilfestellung für ein eigenständiges Tun ist jedoch schädlich, da er das Kind wiederum in seiner Meinung bestärkt, klein und hilflos zu sein.


So hat Joachim mit allen Entwicklungsschritten große Mühe, die ein Loslassen der Familie und ein Hineingehen in die Welt bedeuten: Kindergarten, Kinderfreundschaften, Schule, sich mit anderen messen und einen Platz in der Gemeinschaft erringen . Dies ist ihm zu hart, er ist nicht neugierig auf die Welt, die ihn nur wenig verlocken kann. Er spürt, dass er auf ihre Aufgaben schlecht vorbereitet ist, ihm Erfahrungen und Wissen fehlen.


Hinzu kommt, dass ein ängstliches Kind durch seine Ungeübtheit und Unbeholfenheit leicht in Situationen geraten kann, die es durch negative Erfolge immer stärker in Hemmungen und Vermeidungshaltungen hineintreiben, wenn es sich doch einmal hervortraut oder gefordert wird. Ein solcher Teufelskreis zeigte sich bei Joachim beim Sport. Hier kann man mit Freude und Lockerheit viel erreichen, mit Hemmungen und Steifheit hingegen nur Niederlagen einstecken, die als Erwartungsangst das Kind in der nächsten Situation noch steifer machen.


Am Anfang der Angstentwicklung mag bei Joachim die Gefühlsansteckung durch die Mutter gestanden haben, im Laufe der Zeit wird sie aber auch zu seiner eigenen „Errungenschaft“, die er als Schutz vor den natürlichen Härten des Lebens unbewusst in seinen Lebensplan einfügt. Adler zählt die Angst zu den trennenden Affekten, durch sie kann man Distanz zu Menschen und Aufgaben einlegen, aber zu welchem Preis! Die andere Wirkung der Angst, zu deren Absicherung ängstliche Kinder ebenfalls Charakterzüge wie Schüchternheit, Bravheit, Vorsicht und auch Misstrauen entwickeln, ist ein Appell an nahe Kontaktpersonen um Hilfestellung und Verwöhnung. „Durch ihre Furcht können sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, … um ihr Ziel zu sichern, die Verbindung mit der Mutter wiederzugewinnen. Ein furchtsames Kind ist immer ein Kind, das verzärtelt worden ist und wieder verzärtelt werden will“ (1). Eltern, die selbst ängstlich sind, werden sich meist nur schwer solchen kindlichen Signalen entziehen können.



Ermutigung des ängstlichen Kindes


Wer besorgt über die ängstlichen Züge seines Kindes ist, muss mehrere schwierige Aufgaben überdenken, um dem Kind ein angstfreieres Verhalten zu ermöglichen: Welches Vorbild leben wir, stecken wir das Kind mit unserer eigenen Angst an oder zeigen wir ihm, dass wir als Erwachsene sie ebenfalls kennen, uns aber dennoch um ihre Überwindung bemühen? Dann wird es wichtig sein, die Beziehung zwischen Kind und Erwachsenem besser zu verstehen, um nicht allen Angstappellen nachzugeben und das Kind immer wieder in seiner irrtümlichen Meinung über sich, seine Möglichkeiten und Kräfte zu bestätigen. Möglicherweise gehört dazu, ihm einen größeren Lebensraum zuzubilligen und die “verhakelte“ Beziehung zu lockern.


In der dann entstehenden angstfreieren Atmosphäre wird die Lernbereitschaft des Kindes wieder stärker angeregt. Direkte Schritte gegen seine Ängste sind wenig hilfreich, Fortschritte werden wir nur erzielen, wenn wir sein geringes Selbstwertgefühl in kleinen Schritten fördern und ihm durch viel Zuwendung und Ermutigung Hilfestellung geben, seine Lücken in Umweltkenntnissen und Lebenstechniken zu verringern.


Dann wird das Kind auch dazu in der Lage sein, vermehrt Beziehungen zu anderen Menschen aufzunehmen. Wie schon Adler betonte, gibt es kein besseres „Heilmittel gegen das den Menschen jederzeit bedrohende Angstgefühl“ als „die Förderung menschlicher Verbundenheit, die Einfügung in die Gemeinschaft, die allein ein mutiges und schöpferisches Leben möglich macht“ (2).


(1) zit. nach: Heinz L. u. Rowena R. Ansbacher (Hrsg.): Alfred Adlers Individualpsychologie, München 1972, S. 358.

(2) Josef Rattner: Erziehe ich mein Kind richtig? Frankfurt a. M. 1978, S. 68.

Keine Kommentare: