Freitag, 5. November 2010

Lieblingszitate CXXXXVI: Die Wurzeln der menschlichen Existenz im Blickwinkel von Erich Fromm


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Wer A sagt, muss auch B sagen … Das ist mir in diesem Falle aber eine angenehme Pflicht: Bert Brecht hat mich mit seiner Keuner-Geschichte über Gott seinerzeit sehr in meiner Suche nach einem eigenen Standpunkt zu allen religiösen Fragen bestärkt (vgl. meinen letzten blog-Eintrag). Ein weiteres Fundament meiner Überzeugungen, die sich damals in meiner jungen Studentenzeit herausbildeten, waren die Äußerungen von Erich Fromm, auf den Punkt gebracht in dem nachher folgenden Zitat.

Dieser Text hat für mich insofern noch die besondere Bedeutung, dass durch meine Lektüre von Erich Fromm meine zwiespältige Haltung zu meinem damaligen Psychologiestudium deutlich wird, die sich dann durch mein ganzes weiteres Leben als „Dipl.Psych.“ durchgezogen hat. Erich Fromms Bücher zu studieren war in den Augen vieler Kommilitonen und sicherlich der meisten Professoren schon so etwas wie „Kaffeesatz lesen“, rein spekulativ, ohne empirisch nachprüfbare Grundlage, ein Schlag ins Gesicht einer Psychologie, die den Naturwissenschaften nacheifert und nur an Signifikanzen glaubt. Alles das, was ich irgendwie oft recht dröge und langweilig fand, weil fundamentalere Fragen des Menschseins dadurch aus dem Gegenstandsbereich der Psychologie einfach herausfielen. So ist es für mich auch weiterhin geblieben. Durch mein Psychologiestudium habe ich immerhin wichtige Methoden der Datenerhebung und Verarbeitung erlernt, dazu eine Menge empirischer Forschungsergebnisse, gelegentlich gab es auch einmal eine erfrischende Insel in diesem trockenen Meer: Peter R. Hofstätter als Prof. in Hamburg war noch ein universeller Geist, der so gebildet war, seine empirische Psychologie auch in einem großen geisteswissenschaftlich-philosophischen Zusammenhang sehen zu können. Und Reinhard Tausch machte uns bekannt mit den Ansätzen von Carl R. Rogers, zunächst noch zur Beruhigung aller naturwissenschaftlichen Psychologen über eine Unzahl von kleinen empirischen Studien mit ihren „Signifikanzen“, später aber auch stärker in Würdigung des phänomenologisch-verstehenden Hintergrunds von Rogers. Meine psychologische Heimat habe ich dann, wie in meinem blog schon häufiger dargestellt, erst viel später nach meinem Studium in der Tiefenpsychologie, speziell in dem auf eine „verstehende Psychologie“ zielenden Ansatz der Individualpsychologie von Alfred Adler gefunden.

Da mein Fromm-Zitat einem größeren Zusammenhang entnommen ist („Psychoanalyse und Ethik“, Kap. über „die existentiellen und historischen Widersprüche im Menschen“), fehlen in meinem Auszug einige wichtige Definitionen die ich hier noch voranstellen möchte: Existentielle Widersprüche im menschlichen Dasein seien unauflösbar, so die fundamentale Gegebenheit des Todes. Historische Widersprüche hingegen hätten Menschen selbst in ihrer Geschichte durch bestimmte gesellschaftliche Bedingungen erzeugt, z.B. die Sklaverei in bestimmten Epochen. Sie zu überwinden, haben immer Menschen gekämpft – und tun es bei anderen Themen auch weiterhin, oft mit Erfolg!

Doch nun ein Ende meines langen Vorspanns! Jetzt soll Erich Fromm selbst zu Worte kommen [die Hervorhebung , die ich in eine andere Farbgebung gesetzt habe, entspricht den Vorgaben E.Fromms, alles andere geht auf mich zurück, J.L.]:

Der Mensch kann auf historische Widersprüche reagieren, indem er sie durch eigenes Handeln aufhebt; existentielle Widersprüche dagegen kann er nicht aufheben, sondern nur auf verschiedene Arten darauf reagieren. Er kann sie durch beruhigende und beschönigende Ideologien beschwichtigen. Er kann seiner Ruhelosigkeit durch äußerste Aktivität, sei es in Vergnügungen oder in der Arbeit, zu entfliehen versuchen. Er kann seine Freiheit aufheben, indem er sich zu einem Instrument außer ihm liegender Mächte macht, mit denen er sein Ich identifiziert. Trotzdem bleibt er unzufrieden, angsterfüllt und ruhelos. Es gibt nur eine Lösung: der Wahrheit ins Auge sehen und sich mit dem fundamentalen Alleinsein und der Verlassenheit in einer Welt abfinden, die dem menschlichen Schicksal gegenüber indifferent ist, und anzuerkennen, dass es keine den Menschen transzendierende Macht gibt, die sein Problem für ihn lösen kann.

Der Mensch muss die Verantwortung für sich selbst übernehmen und sich damit abfinden, dass er seinem Leben nur durch die Entfaltung seiner eigenen Kräfte Sinn geben kann. Aber dieser Sinn bedeutet nicht Gewissheit; das Suchen nach einem Sinn wird durch den Wunsch nach Gewissheit sogar erschwert. Ungewissheit ist gerade die Bedingung, die den Menschen zur Entfaltung seiner Kräfte zwingt. Sieht er der Wahrheit furchtlos ins Auge, dann erfasst er, dass sein Leben nur den Sinn hat, den er selbst ihm gibt, indem er seine Kräfte entfaltet: indem er produktiv lebt. Nur ständige Wachsamkeit, Aktivität und unermüdliches Bemühen bewahrt uns davor, in der wesentlichen Aufgabe zu versagen – in der Aufgabe, unsere Kräfte voll zu entwickeln innerhalb der Grenzen, die durch unsere Lebensgesetze gezogen sind. Der Mensch wird nie aufhören, immer wieder verwirrt zu sein und sich neue Fragen zu stellen. Nur wenn er die menschliche Situation, die seiner Existenz innewohnenden Widersprüche und seine Fähigkeit der Entfaltung erfasst, kann er seine Aufgabe lösen: er selbst und um seiner selbst willen zu sein und glücklich zu werden durch die volle Verwirklichung der ihm eigenen Möglichkeiten – der Vernunft, der Liebe und der produktiven Arbeit.

Erich Fromm: Psychoanalyse und Ethik. Stuttgart 1954. S. 59 – 60.

[in meiner Sammlung seit dem 17.9.1983]

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