Samstag, 6. November 2010

Die Wurzeln der menschlichen Existenz im Märchen von Georg Büchner

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Harte Kost! Es gibt nicht wenige Leute, die dieses Märchen als nihilistisch bezeichnen. Aber vielleicht ist es nur ehrlich. Ich sehe es in gewissem Sinne als Fortsetzung meiner beiden blog-Beiträge mit den Zitaten von Bert Brecht und Erich Formm vom vergangenen Freitag (5.11.2010) über die Wurzeln der menschlichen Existenz. Zeitlich gesehen ist es allerdings ein Vorläufer, 100 Jahre älter als die Texte der beiden anderen Verfasser.


Das Märchen der Großmutter

Es war einmal ein arm Kind und hatt’ kein Vater und keine Mutter, war alles tot und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingegangen und hat gerufen Tag und Nacht. Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehen, und der Mond guckt es so freundlich an, und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie es zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonneblum und wie’s zu den Sternen kam, waren’s kleine goldne Mücken, die waren angesteckt wie der Neuntödter sie auf die Schlehen steckt und wie’s wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Hafen und war ganz allein, und da hat sich’s hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und ist ganz allein.

Georg Büchner, Woyzeck

Gefunden in: Die schönsten Märchen. Hrsg. von Peter Härtling. – Berlin: Aufbau-Vlg. 2009. S.7.


"Und da hat sich's hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und ist ganz allein." Das ist eine traurige Situation, aber ist sie so grundlegend anders als bei Herrn Keuner, der aus dieser Einsamkeit ableitet, dass offenbar viele Menschen lieber an einen Gott glauben? Und soviel anders als die Aussage von Erich Fromm, der vom "fundamentalen Alleinsein und der Verlassenheit in einer Welt" spricht? Aber Erich Fromm formuliert gerade daraus seine Forderung, dass der Mensch tätig werden und sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen müsse, nicht aber in seiner unproduktiven Trauer verharren dürfe, wie es noch das kleine Mädchen bei Büchner tut. Und mit der Chance auf gute Resultate, denn Erich Fromm ist alles andere als ein Nihilist!!


Bemerkenswert finde ich außerdem, dass ich dieses Märchen ausgerechnet in einer Sammlung von Peter Härtling wiedergefunden habe, den ich wegen seiner einfühlsamen Bücher, besonders für Kinder und Jugendliche, hoch schätze. Auch alles andere als ein nihilistischer Autor, ganz im Gegenteil, wenn ich mir die warmherzigen Botschaften, mit denen er sich für die Belange von Kindern und solchen Menschen, die etwas anders sind, einsetzt, dabei aber immer ein sachliches Auge behält und keine Lebensbedingungen beschönigt.

Für ihn steht dieses Märchen als Erinnerung an eine historische Aufführung des "Woyzeck" im Berliner Schlossparktheater, einer Inszenierung, die er als "treffend" bezeichnet. Sie hätte etwas von einem unendlich traurigen Kasperletheater gehabt. In einer Situation, die für Härtling offenbar exemplarisch für das Erzählen von Märchen war, habe Elsa Wagner in einer unnachahmlichen Weise diese Worte von Georg Büchner vorgetragen. Dieses Erlebnis hat Peter Härtling offenbar so beeindruckt, dass er deshalb diesen Text als ersten in seiner Märchensammlung aufführt.

Eine Zumutung für Kinder? Oder das Vertrauen in die Wahrheit dieser Aussagen und in die Kraft der Sprache von Georg Büchner?

(Quelle: Das oben zitierte Buch, S. 5 - 6)

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