Dienstag, 16. November 2010

Gerd Bosbach und die Demografie

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Noch einmal bin ich in Ver.di Publik v. Okt. 2010 fündig geworden und habe ein hochinteressantes Interview gefunden, das Karin Flothmann mit Gerd Bosbach führte. Bosbach ist Professor für Statistik und Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung an der Fachhochschule Koblenz. Er äußert sich hier zu den geläufigen Tricksereien mit demografischen Daten, unseriösen Prognosen und dem beliebigen Umgang in der Poliktik, je nach erwünschtem Erfolg in der verunsicherten Bevölkerung.
Fett

Das ist ganz im Sinne von Albrecht Müller, der solche Vorgänge in seinem Buch "Meinungsmache" analysiert hat (München 2009). In einem früheren Buch, nämlich "Die Reformlüge" (München 2004) nannte er so etwas "Mythenbildung", die die Menschen weich klopft, angebliche "Reformen" mit zu tragen, die aber nicht im wirklichen Interesse der großen Bevölkerungsmehrheit liegen, sondern nur mächtigen Gruppierungen nutzen, die im Hintergrund bleiben. (Z.B. wer verdient an einem Abbau der gesetzlichen solidarischen Rentenversicherung, die angeblich wegen der Demografie zukünfig nicht mehr ausreichen soll? Ein Thema, das ich an dieser Stelle nicht vertiefen möchte.)

Hier die interessantesten Auszüge:


Wie Betrunkene am Laternenpfahl

Statistik / Ob Rentenkürzung, Jugendarbeitslosigkeit oder Facharbeitermangel: Die schwarz-gelbe Bundesregierung deutet Demografie so, wie es ihr gerade in den Kram passt

Herr Bosbach, die Deutschen werden immer älter, immer weniger Kinder werden geboren. Viele sprechen inzwischen von einem Krieg der Generationen, der uns bevorsteht.

Das ist Unsinn. Wenn überhaupt, dann wird es einen Konflikt zwischen Arm und Reich geben. Denn die zukünftigen Generationen erben nicht nur Schulden, sie sind auch Gläubiger. Die reichen Jungen werden die Zinszahlungen bekommen und die armen Jungen werden sie bezahlen müssen.

Können Sie als Statistiker sagen, wie Deutschland in 50 Jahren aussieht?

Nein, ein statistischer Blick auf die Zeit in 50 Jahren ist unmöglich. Das ist Kaffeesatzleserei. [...]

Aber manch demografische Prognose scheint sich zu realisieren. Immerhin ist schon heute vom Facharbeitermangel die Rede.

Da bekomme ich regelmäßig einen Anfall. Wenn wir heute einen Facharbeitermangel haben, dann hat das nichts mit Demografie und zu wenigen Jugendlichen zu tun. Es hat damit zu tun, dass wir seit den 90er Jahren zu wenig Jugendliche ausgebildet haben. Noch heute werden zwischen 50 000 und 150 000 Jugendliche pro Jahr nicht vernünftig oder gar nicht ausgebildet. Wenn wir heute nicht ausbilden, dann haben wir morgen keine Facharbeiter.

Was müsste getan werden?

Zuallererst müssten Jugendliche eine qualitativ hochwertige und vernünftige Ausbildung bekommen. Das läuft zur Zeit weder in den Begtrieben noch in den Schulen und Hochschulen. Außerdem müssen wir endlich humane Arbeitsbedingungen schaffen, so dass sich die Zahl der Frühverrentungen reduziert.

Was halten Sie in diesem Zusammenhang von der Rente ab 67?

Die Rente ab 67 wird für den übergroßen Teil der Bevölkerung eine Rentenkürzung in Höhe von mindestens 7,2 Prozent mit sich bringen. Denn viele Menschen werden höchstens bis 65 arbeiten. [...]

Die Politik scheint demografische Daten ganz nach Belieben zu benutzen.

Ja. Wenn die Daten unseren Politikern in den Kram passen, werden sie benutzt, um die Rentenversicherung zu privatisieren. Wenn sie einem nicht gefallen, weil Ausbildungsplätze geschaffen oder Hochschulen gebaut werden müssten, blendet die Politik die Daten aus. Politiker benutzen die Statistik, wie ein Betrunkener einen Laternenpfahl. Nicht, um eine Sache zu beleuchten, sondern um sich daran festzuhalten.

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