Montag, 7. Juni 2010

Therapeutische Reminiszenzen I

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In der Zeit nach 1980 habe ich mehrere Jahre lang intensiv im Rahmen des Berliner "Arbeitskreises für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie" (Ltg. Josef Rattner) mitgearbeitet. Einiges sehe ich jetzt unter einem z.T. veränderten Blickwinkel, aber es war eine außerordentlich fruchtbare Zeit in meinem Leben! Nie wieder habe ich so intensiv etwas von anderen Menschen und von mir selbst erfahren können. Nie wieder hatte ich so leicht die Chance zu offenen Gesprächen und Freundschaften mit anderen Menschen. Und Herrn Rattner verdanke ich meine Liebe zur Tiefenpsychologie, durch die ich - immerhin schon vorher diplomierter Psychologe - eine Heimat und Orientierung im chaotischen Bereich der vielen Psychologien und ihren unterschiedlichen Menschenbildern und Wertorientierungen finden konnte. Es hat mich allerdings von der klassischen akademischen Psychologie und ihrem naturwissenschaftlichen Anspruch sehr entfremdet, denn seither überzeugen mich nur noch bedingt statistisch signifikante Koeffizienten, sondern viel mehr die "Kunst des Verstehens", ganz nach dem Vorbild des großen Individualpsychologen Alfred Adler.


In der damaligen Zeit habe ich auf Karteikarten besondere Äußerungen und Einsichten notiert, die mich in Seminaren und Therapiesitzungen bewegt hatten. Diese habe ich jetzt wiederentdeckt und mich gefragt, was ich mit ihnen anfangen könnte. Einige Aussagen erscheinen mir so wertvoll, dass ich sie nicht einfach vernichten möchte. Ich habe sie deshalb für meinen blog "gerettet", denn sie stellen weiterhin hochinteressante Einblicke in die praktische Menschenkenntnis und in eine Ethik des Zusammenlebens dar. Ich werde in der Folge gelegentlich einige "Kostproben" in unsystematischer Form auf meinem blog veröffentlichen. (Alle auf konkrete Personen bezogenen Angaben habe ich anonymisiert.)




Glück:

- In der Kindheit bedeutet es ein Verschmelzungsgefühl mit der Welt.

- Als Erwachsener ist Glück hingegen nur noch möglich, wenn man mit seinem Ich der Welt gegenüber tritt und sich mit ihr verbindet.

- Man muss sich dabei selbst spüren.

- Glück kann auch durch Hingabe an Situationen entstehen, vorausgesetzt, man hat sich innerlich entsprechend darauf eingestimmt.

- Glück entsteht als Lohn für Überwindungsarbeit von Schwierigkeiten und inneren Hürden.

- Glück hat auch etwas mit einem Verbundenheitsgefühl zur Welt und damit mit der Verbundenheit zu Menschen zu tun.


Erwachsenwerden

Erwachsenwerden heißt u. a., sich mit seinen Schwächen auszusöhnen und trotzdem nicht stehen zu bleiben, sondern sich weiter zu entwickeln und auch zu handeln. Insbesondere gehört dazu weiter zu lernen.


Erwachsenwerden

Anlässlich einer Stunde in der Gruppentherapie wurden mehrere Punkte zusammengetragen, die als Maßstab dienen können, wieweit ein Mensch auf dem Weg zum Erwachsenwerden vorangeschritten ist:

- Eingehen einer Partnerschaft

- Aussöhnung mit dem eigenen Werdegang und den eigenen Eltern

- Affekt-Stabilität

- Stabiles Selbstwertgefühl, d.h. die Fähigkeit, aus sich selbst heraus leben zu können

- Richtungsweisende Ideale


Essen

Vernünftig essen bedeutet, sich mit der Welt zu versöhnen.


Freude in sich erzeugen

Man kann Freude in sich erzeugen durch selbständige Handlungen, die eine Ich - Erweiterung bewirken.


Freundschaft

Freundschaft setzt nicht unbedingt voraus, dass die Beteiligten völlig gleich sind. Auch mit einem Abstand im Können etc. kann eine Freundschaft sehr bereichernd sein, wenn dieser Abstand keinen Neid hervorruft, sondern über Bewunderung zur Nachahmung animiert.


Zufriedenheit mit der Arbeit

Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit ergibt sich dann am leichtesten, wenn man sich ein Arbeitsfeld ausgrenzt, das im Umfang zu schaffen ist. Man sollte nicht ständig auf alle weiteren möglichen Aspekte gucken, die die eigene Leistungskraft übersteigen würden. (Diese Bemerkung bezog sich eher auf das Anfertigen wissenschaftlicher Arbeiten, im Zusammenhang mit Lohnarbeit macht es sicherlich nur wenig Sinn!)


Freunde im Gefühl bewahren

Hilfreich gegen depressive Gefühle ist es, die Gruppe / seine Freunde innerlich im Gefühl zu haben / mit sich herumzutragen. So ähnlich hat es auch der Maler Courbet gemacht. Dieser hat in seinem Atelier auf einem großen Bild alle seine Freunde vereint, die aber in Wirklichkeit nie alle gleichzeitig da gewesen waren. So konnte er sie immer alle um sich vereinen. (Diesen Hinweis verdanke ich M. B.)


Zartere Gefühle bei hektischen Menschen

Ein Analysand beklagte sich darüber, gegenüber seiner Partnerin keine ruhigen und tiefen Gefühle wahrnehmen zu können.

Herr R. deutete es so: Da der Analysand aus dem „Hektiker-Lager“ stamme, werde er bisher das Ausmaß an Hektik als Maß für die Stärke des Empfindens genommen haben. Und bei viel Hektik sei viel Aufregung. Man müsse dann erst lernen, in Ruhe in sich hineinzugucken, weil die dann möglicherweise auftauchenden Gefühle viel zarter und weniger stark in der Amplitude seien als die Hektiker-Gefühle.


Freude

Es gibt Menschen, die sich so vor Freude ängstigen, dass sie lieber an ihrer Depression festhalten. Freude hingegen bewirkt eine Öffnung zur Welt bzw. resultiert aus dieser Öffnung! Freude entsteht auch bei der Überwindung von Widerständen, bei der Erweiterung bisheriger eigener Grenzen.


[Fortsetzung folgt bei Gelegenheit]

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