Dienstag, 29. Juni 2010

„Precious – Das Leben ist kostbar“


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Wow! Was für ein Film! Was für eine Hauptdarstellerin! Seit ich Besprechungen dieses Films gelesen und Fotos der Hauptdarstellerin Gabourey Sidibe gesehen hatte, war mir klar: Diesen Film musst du unbedingt sehen!


Precious – Das Leben ist kostbar. USA 2008. Regie Lee Daniels. In den Hauptrollen Gabourey Sidibe als gequälte Tochter und Mo’Nique als demütigende und schlagende Mutter, die für ihre überzeugende Darstellung einen Oscar erhielt. Drehbuch nach einem Roman von Sapphire. Insgesamt gab es sechs Oscar-Nominierungen für diesen Film. Die MOZ zählte ihn zu den besten Filmen des Jahres (25.3.2010).


Was für ein schreckliches Leben! Die farbige 16 jährige Claireece ist bereits vom Leben gezeichnet. Extrem übergewichtig, vom eigenen Vater zweimal geschwängert, von der Mutter seelisch gequält und körperlich misshandelt, bisher überall eine Außenseiterin und ohne jeden Schulerfolg, macht sie sich dennoch auf den mühseligen Weg, ein eigenes Leben für sich und ihre Kinder aufzubauen. Sie findet eine Spezialschule mit einer Lehrerin, die an sie glaubt, und lernt, trotz aller Widerstände, in unglaublich kurzer Zeit Lesen und Schreiben, alles das, was ihr bisher mehr oder weniger verweigert worden war (bzw. an der vorhergehenden Normalschule hatte sie einfach keine Chance bei ihren Rahmenbedingungen). Als sich dann noch eine Sozialarbeiterin verstärkt um sie bemüht, gelingt ihr auch die Abnabelung von ihrer gewalttätigen Mutter, die sie in ein allerdings weiterhin ungewisses Schicksal verlässt.


Was können Menschen einander alles antun? Welche nur erdenkbaren Schrecken können jemand treffen? Der Film lässt nichts aus. Die Bestie von Vater, der seine Tochter bereits als Kleinkind missbraucht und ihr später zwei Kinder macht, als Andenken an ihn nach seinem Tod auch noch mit der Gewissheit, die HIV-Erkrankung des Vaters „geerbt“ zu haben. Die völlig aus der Bahn geworfene Mutter, die nur noch auf Kosten der Sozialhilfe und der Arbeitsleistung ihrer Tochter dahinvegetiert, als einzigen Dank aus Eifersucht auf ihre Tochter dieser das Leben zur Hölle machend … (Es gibt da einige schlimme Szenen im Film. Er ist freigegeben ab 12 Jahren, ich hätte diese Altersgrenze eher auf 18 heraufgesetzt.) So massiert habe ich Elend, Missbrauch und Gewalt noch nie im Kino gesehen.


Neben diesen schwärzesten Seiten hat dieser Film aber auch einen erstaunlichen Optimismus, der ansteckend ist und den Zuschauer mit der Heldin mitzittern, aber auch erleichtert aufatmen lässt, wenn Precious, wie Claireece genannt wird, diese Gewaltspirale verlassen kann und sich in ein eigenes Leben, fern ab von allen ihren bisherigen Quälgeistern, aufzumachen versucht. Ist das realistisch – oder nur ein schöner Traum? Jedenfalls ist ihre Energie bewunderungswürdig, nach jeder Demütigung erneut aufzustehen und weiterzumachen.


Ein Hoch natürlich auch auf jegliche Form von Bildung und einfühlsame Lehrer, die selbst für derartig schwierige „Fälle“ Engagement über jedes normale Maß aufbringen! Da ist dann die Frage an mich, der ich ja auch aus dem „Helferlager“ stamme: Wie machen Lehrerin und Sozialarbeiterin das bloß? Sie entwickeln eine fast übermenschliche Geduld, Mitleidensfähigkeit und ein Engagement, das weit über eine normale „Berufstätigkeit“ hinausreicht, zumal beide nur unzureichende Arbeitsbedingungen haben. (Ich denke da an das Großraumbüro der Sozialarbeiterin, in dem sie nur eine „Ecke“ zu eigen hat, in der sie aber Gespräche mit den kompliziertesten Klienten führt.) Hält das jemand wirklich länger durch? Das ständige Elend der Klienten und die wahrscheinlich nur eingeschränkten Hilfsmöglichkeiten? Werden hier nicht auch zwei Frauen gezeigt, die bei anhaltendem Engagement in diesem Ausmaß auf ihren Zusammenbruch in einem „burn out“ hinsteuern? Aber es ist ja ein Spielfilm und keine Dokumentation.


Der Film will aber offensichtlich hauptsächlich aufrütteln und für Leid und Gewalt sensibilisieren. Auch für die Botschaft, dass es in den schlimmsten Lebenssituationen noch eine Chance geben kann, wenn ein lernwilliger Mensch bereit ist, alte Bahnen zu verlassen und die echte Hilfe anderer anzunehmen (nicht nur die Leistungen der Sozialkasse).


Da bleiben dann so spezialisierte Fragen offen wie meine, wie man diese Handlung mit dem schönen neuen Konzept der Resilienz in Verbindung bringen könnte. Immerhin ein „Renner“ in den Sozialwissenschaften der letzten Jahre! Der Ansatz versucht eine Antwort darauf zu geben, warum einige Menschen, die Schlimmes in ihrem Leben durchmachen mussten, dennoch „heil“ aus dieser Misere hervorgehen, während die meisten anderen, die gleiche Bedingungen hatten, untergehen, Störungen entwickeln oder asozial werden. Die Resilienzforschung hat dafür besonders verantwortlich gemacht, dass Kinder aus schwierigsten Verhältnissen dennoch in ihrer Kindheit und Jugend Unterstützung durch einen/einige verlässliche Menschen gefunden haben, auf die sie bauen konnten. Da ist in der Biographie von Precious aber niemand zu entdecken. Dennoch ist sie offen und kann die Angebote von Lehrerin und Sozialarbeiterin annehmen, sie reagiert eher sogar wie ein „Schwamm“! Im Gegensatz zu den Forschungsergebnissen tritt diese Unterstützung bei ihr aber erstmalig im beginnenden Erwachsenenalter auf, nicht in der Kindheit. Nun, jeder, der sich mit dem Resilienz-Konzept beschäftigt, möge selber darüber nachdenken, ob dieser Film damit vereinbar ist oder nicht.


Egal wie: Unbedingt ansehen!

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