Sonntag, 27. Juni 2010

Die Fußspur

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Ich bin ein Mensch, der von seinen Eltern sehr zur Ordentlichkeit erzogen worden ist, äußerlich und innerlich. Das ist irgendwo schon eine gute Eigenschaft, denn es betrifft auch meine Haltung gegenüber sozialen Ordnungen. Da ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, Regeln einzuhalten und anderen das zukommen zu lassen, was ihnen offiziell zusteht. Soweit, so gut, aber es hat auch seinen Preis.


Denn wenn ich durch unseren Ort gehe, gerade am Wochenende, wenn Ruhe eingekehrt ist und ich mich einfach umschauen kann, sehe ich, dass offensichtlich viele Jüngere diesen Ordnungsgeist (oder Fimmel??) nicht mehr beigebracht bekommen haben oder gerade ihren Ärger über "die anderen" oder "die da oben" dadurch ausleben, dass sie z.B. die Straße zur Müllkippe erklären oder durch die 30-km-Innenstadtzone mit Lautstärke durchbrettern. Dann spüre ich die Nachteile meiner "frühen Sozialisierung": Entweder überkommt mich großer Ärger bis Abscheu (und tut damit meinem Blutdruck nicht gut) und eine aussichtslose Vorwurfshaltung - oder, versteckter, eine ziemliche Überheblichkeit. Vielleicht ja nur ein Kompensationsversuch für meinen Ärger, den ich nicht ausleben kann. Es tut schließlich gut, sich als edleren Menschen empfinden zu können, der verantwortlicher ist, anderen derartiges nicht antut und sich auch wenigstens einen Rest von ästhetischen Gefühlen angesichts dieser Schlampereien bewahrt hat.


Wenn ich aber nicht nur in diesem moralischen Imponiergehabe steckenbleiben möchte (es bringt leider kaum Punkte ... und macht die Straße nicht sauberer), fällt mir manchmal die folgende Szene wieder ein:


Vor über 25 Jahren wohnte ich vorübergehend in Charlottenburg in der Bleibtreustraße in einem etwas verwunschenen alten Haus in einer WG. Es gehörte zu den stattlichen Gründerzeithäusern, die dort der Stadt das Gepräge geben. Allerdings hatten die Bomben in ihm gewütet und in den höheren Stockwerken einige Teile der Hausfassade und der Wohnungen zum Verschwinden gebracht. Ein bemerkenswerter Anblick (noch heute!).Ich wohnte im obersten Stockwerk, also im dritten oder vierten Stock.


Eines Tages kam ich nach Hause und stellte fest, dass irgendwo im Haus gemalert wurde. Denn ein nichtsnutziger Mensch war mit seinen Schuhen in weiße Farbe getappst und hatte eine eindrucksvolle Spur im Hausflur hinterlassen. "Wie kann man nur...", "Hat der denn garnichts gemerkt?", "Wieso hat der denn das immer noch nicht saubergemacht?", "Wer war denn dieses Erdferkel (sozialere Form von "Schwein")?". Mit solchen Gedanken stieg ich die Treppe zum ersten Stock hoch. Etwas gedämpfter in meinen Anklagen war ich dann, als die Spur immer noch nicht aufhörte und mich ins nächste Stockwerk begleitete. "War das etwa jemand von uns aus der WG?" dachte ich schon sehr viel verhaltener, ansatzweise bereit, von einer Anklagehaltung auf Verteidigung und Rechtfertigung umzusteigen. Als die Spur dann immer noch nicht aufhörte, wurde ich allmählich kleinlaut und malte mir aus: "Mensch, was mache ich bloß, wenn ich das selbst gewesen sein sollte?". Vor der endgültigen Zerknirschung bewahrte mich allerdings die Tatsache, dass die Spur im vorletzten Stockwerk in eine fremde Wohnung führte. Erleichtert ging ich die letzten Stufen hoch... Immerhin habe ich dieses kleine Erlebnis bis heute nicht vergessen, es hat mich etwas bescheidener gemacht. Und machmal fällt es mir wieder ein, wenn mich ein moralischer Rigorismus und Überlegenheitswahn überfällt. Wo ist die eigene Nase? Noch dran?


Das kühlt dann mein Mütchen etwas ab und lässt mich wieder anderen Themen zuwenden. Gelegentlich hebe ich auch eine besonders hässliche Tüte auf der Straße auf und befördere sie in den nächsten Papierkorb, das beruhigt mich etwas und gibt mir immerhin ein aktives Gefühl.

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