Mittwoch, 23. Juni 2010

Kollektive Abwehrmechanismen

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Verdrängungen, Familiengeheimnisse und kollektive Gedächtnisstörungen

Seitdem ich mich mit Psychoanalyse beschäftige, weiß ich um die Wirksamkeit verdrängter Erinnerungen. Für Freud ist ihre Aufdeckung, Bearbeitung und (wenn möglich) Überwindung Kern seiner therapeutischen Bemühungen, denn sie konfrontieren das Individuum mit seiner persönlichen Wahrheit und setzen im positven Fall Kräfte frei, die bisher zur Unterdrückung dieser unerwünschten Erinnerungen gebunden waren, auch wenn es möglicherweise mit Trauerarbeit verbunden ist: Ich lerne stärker über mich selbst zu bestimmen und befreie mich von aufoktroyierten Einschränkungen! Einige der "Abwehrmechanismen", zu denen man die Verdrängung zählen kann, haben allerdings durchaus auch eine schützende Funktion für die Persönlichkeit, um nicht von allen Seiten psychisch "überrollt" zu werden. Aber je mehr ich über mich weiß, um so freier und eindeutiger kann ich mich entscheiden und Konsequenzen meines Verhaltens abschätzen.

Später befasste ich mich auch mit Familientherapie und - wie es mittlerweile modisch hieß und heißt - systemischer Therapie, d. h. mit der Einbettung des Einzelnen in seinen familiären Zusammenhang. Auch hier hat die Psychoanalyse wichtige Erkenntnisse beitragen können, z.B. mit der Generationen übergreifenden Perspektive. Sie besagt, dass wir offenbar noch viel weniger frei in unseren Anschauungen und Entscheidungen sind, als es eh' schon der Fall zu sein schien, weil offensichtlich auch unsere "Altvorderen" ein gewichtiges Wörtlein mitzureden haben. Sie haben uns manchmal Verpflichtungen und Eingrenzungen aufgrund von "Familiengeheimnissen" auferlegt, für die eigentlich nur sie, nicht aber wir Verantwortung tragen. Mitgefangen, mitgehangen ... Generationen müssen so oft die Schuld der Alten mittragen.

Die Situation ist ideologisch leicht angeheizt: Es gibt begeisterte Anhänger des Ansatzes von Bert Hellinger und seiner Form von "Familienaufstellungen", für andere hingegen ist diese Methode "das rote Tuch". Ich bin da eher pragmatisch und interesse mich für das, "was wirkt"! Und da kann ich - auch wenn es mein rationales Psychologen-Gehirn durcheinandergebracht hat - nicht anders Stellung beziehen, als dass ich aufgrund von Familienaufstellungen erstaunliche Einsichten in meinen eigenen "Clan" gewinnen konnte und auch klärende Einsichten und Erlebnisse hatte, die mich mit Früherem Frieden schließen und alte Kapitel abschließen ließen. So bin ich mittlerweile davon überzeugt, dass es tatsächlich Verstrickungen der jetzt Lebenden mit dem Schicksal Früherer gibt, die uns Fesseln anlegen und Dinge tun lassen, deren Sinn wir solange nicht wirklich ergründen können, solange wir nicht den familiengeschichtlichen Hintergrund verstanden haben. Dementsprechend schwer fällt es, das eigene Handeln zu verändern. Wie Hellinger gezeigt hat, geht es auch hier meistens um familiär-kollektive Formen von Verdrängungen, eben die "Familiengeheimnisse", um "vergessene" Mitglieder, die dem Clan peinlich waren und in irgendeiner Form ausgeschlossen wurden. Werden sie wieder ins bewusste System hineingeholt (wirklich "verschwunden" waren sie ohnehin nicht) und gewürdigt, stehen plötzlich verstärkte Entwicklungskräfte für Zukünftiges im System zur Verfügung, also für uns und unsere Kinder. Diese Würdigung der Ausgeschlossenen finde ich vergleichbar mit der Trauerarbeit bei S.Freud.

Erst in jüngster Zeit wurde ich darauf aufmerksam, dass es offenbar in noch viel größeren Zusammenhängen kollektive Verdrängungsmechanismen geben muss, die ganze Kulturen und Völker zu beeinträchtigen scheinen. Vielleicht bin ich auch nur unwissend und es gibt schon lange Forschungsansätze, die sich genau dieser Frage widmen. Ich kenne sie aber nicht, und meine Leser mögen es mir verzeihen, wenn ich hier vielleicht hinreichend Bekanntes als meine Ideen ausbreiten sollte. (Das wäre dann so ein Phänomen, wie ich es in meinem blog v. 21.6.10 "Im Strom der Gedanken mitschwimmen" beschrieben habe.)

Handgreiflich vor Augen hatte ich ein solches Phänomen, als es vor einigen Wochen um eine Fernsehdokumentation ging, die dem Völkermord an den Armeniern am Ende des I. Weltkriegs im Osmanischen Reich gewidmet war. (vgl. meinen blog v. 11.4.2010 über "Die Flut der Ereignisse ...") Über 90 Jahre liegen diese Ereignisse nun zurück, unter Historikern sind die Abläufe nicht strittig, und dennoch kämpft die offizielle Türkei gegen eine Anerkennung der Schuld, die ihre Urgroßvätergeneration einmal verantwortet hat. Ich verstehe dieses Leugnen nicht. Es geht ja so weit, dass die Türkei diplomatische Verwicklungen mit den Ländern herbeigeführt hat, deren Parlamente Resolutionen zugestimmt hatten, die den damaligen Völkermord auch wirklich als "Völkermord" deklarieren. Ich habe dabei nicht gehört, dass es um wirtschaftliche Interessen ging und erhebliche Ausgleichszahlungen für Betroffene gefordert worden wären, sondern einzig und allein um das Anerkennen einer früheren Schuld, damit die Heutigen in der Region friedlicher miteinander leben könnten.

"Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen!" Bei anderen sind solche Verdrängungen leichter zu sehen als im eigenen "Dunstkreis", in dem gerade wir Deutschen sicherlich einiges zu bieten haben ... Den Holocaust konnten die Deutschen nach dem II. Weltkrieg nicht verdrängen, da hatten zu viele Andere "die Finger in der Wunde". Einzelne taten es dennoch, mit welchem Gewinn? (Ich denke da an Bischof Williamson, der sich mit seiner Holocaust-Leugnung in die Nähe zu Antisemiten und Rechtsradikalen begab.) Aber kollektiv wirksam war sicherlich in der frühen Bundesrepublik das Verdrängen der Tatsache, dass die meisten Bundesbürger wenige Jahre zuvor - als Mitläufer oder Mitgestalter - das Nazi-System gestützt und durchaus auch zeitweilig von ihm profitiert hatten. Nie ein wirkliches Thema in der Bevölkerung, an das ich mich als Kind und Jugendlicher erinnern könnte. Wenn auch ganz anders gestrickt, aber von breiten Bevölkerungsschichten ebenso mitgetragen, gab es Zustände in der ehemaligen DDR, an denen viele mitgewirkt haben und die ebenso einer Aufarbeitung noch harren. Wird auch das erst der Enkel- oder Urenkel-Generation gelingen, so wie es z.Zt. mit der Aufarbeitung von Verstrickungen einzelner Familien in Nazi-Deutschland in Büchern und Filmen erst jetzt geschieht, nachdem die betroffenen Täter nicht mehr leben? Viele Fragezeichen. Es gibt sicherlich noch viele, viele andere Beispiele, besonders in Ländern, in denen zeitweilig totalitäre Systeme gewütet haben, die aber ihre Untaten nicht ohne die Hilfe vieler Menschen aus der jeweiligen Bevölkerung hätten umsetzen können. Leider ein weites Feld ...

Was bedeutet das alles nun unter psychologischen Gesichtspunkten?

Allen aufgezeigten Formen von Verdrängungen gemeinsam ist m. E., dass eine freie Weiterentwicklung, sei es auf persönlicher, familiärer oder gesellschaftlicher Ebene, daran gekoppelt sein dürfte, dass alte Wunden überhaupt zunächst einmal erkannt, dann anerkannt und schließlich auch betrauert werden müssen. Erst danach kann sich "Schorf" auf den Wunden bilden, gefolgt von Narben, die in manchen Fällen, aber nicht immer, unschön aussehen, dafür aber beredt Auskunft über Früheres geben und dadurch auch für den Reichtum des Lebens stehen und für die Kraft, auch unter widrigen Bedingungen sein Leben gestalten und weiter entwickeln zu können. Ohne diese Schritte ist die Gefahr sehr groß, dass alte Wunden wieder aufbrechen, mit entsprechender fataler Wirkung, denn ohne Aufarbeiten der Hintergründe der Symptome und Ereignisse droht der "Wiederholungszwang", wie Freud dieses Phänomen nannte. Hätte dies für das einzelne Individuum allein schon die fatale Wirkung, das der Kreis der Neurose nie verlassen werden kann, ist es auf kollektiver Ebene noch viel gefährlicher, wenn alle nichts aus der Geschichte lernen können und in der Gefahr stehen, in ähnlichen Situationen wieder auf Diktatoren und falsche Propheten hereinzufallen und die Katastrophen der Vergangenheit zu wiederholen. Dieser Kreislauf muss durchbrochen werden, soll eine humanere Gesellschaft entstehen!!!



Nicht im Vergessen, sondern im sich Erinnern besteht das Geheimnis der Erlösung.

Baal Schem Tov

[Eine Quellenangabe liefere ich in einem meiner nächsten Posts nach!]

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