Samstag, 27. Februar 2010

Mein tägliches Dilemma, II. Teil: Die Flut der Themen

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Am 16.2.2010 habe ich unter dem Titel "Mein tägliches Dilemma" launig von meinen Entscheidungsschwierigkeiten berichtet, aus der Flut von Nachrichten mich für ein Thema für meinen blog zu entscheiden, denn mehr überfordert mich im Regelfall - und wer soll und will das auch alles lesen?? Dabei hatte ich meine "Lesefrüchte" vom 15.2. im Auge und von ihnen bereits ein Manuskript vorbereitet, das ich aber in den Folgetagen nicht mehr vernünftig ausarbeiten konnte. Das habe ich jetzt nachgeholt! Die Themen sind alle noch mehr oder weniger aktuell, und so kann ich exemplarisch einmal meine "Herausgeberprobleme" aufzeigen.

Dies waren für mich die interessantesten Themen des Tages:

1. Guido Westerwelles Aussagen über die "sozialistischen Züge" der Debatte um die Hartz-IV-Sätze, kombiniert mit seiner Warnung vor "spätrömischer Dekadenz" werden bekannt. Ich finde, mit Verlaub, seine Aussagen derart zum K., dass sie mich provozieren, sozusagen "in Notwehr" bösere Worte zu produzieren, als ich sie zuletzt von mir gewohnt war. Denn eigentlich befinde ich mich auf dem Weg, über Ereignisse und Zeitgenossen milder zu urteilen und versöhnlicher zu sein, als es mir früher gelungen war. Ein Rückfall, dabei weiß ich, dass Kampfgefühle und Groll mir persönlich nicht gut tun. Andere fühlten sich offenbar ähnlich "angemacht": Frank-Walter Steinmeier soll gesagt haben, die Äußerungen des Vizekanzlers zum Thema würden "von Tag zu Tag unerträglicher und zynischer". (MOZ, 15.2.2010)

2. Aus der Schweiz wird uns Rache angedroht für den Ankauf der CDs mit den Daten über Steuersünder. Der Nationalrat Alfred Heer droht (nach entsprechenen Gesetzesänderungen) mit der Veröffentlichung von Daten deutscher Politiker und Richter, die in der Schweiz Konten und Stiftungen unterhalten sollen, auf die sie ihr unversteuertes Geld gerettet haben. Ob er denkt, dass jetzt die Landesregierungen in Deutschland in Panik geraten und nichts mehr gegen die Steuersünder unternehmen werden? Irgendwie könnte das auch Stoff fürs Kabarett oder eine schöne Satire sein: Wurden nach der Wende (teilweise) Staatsbedienstete und Politiker "gegauckt", um ihre reine Weste gegenüber der Stasi nachzuweisen, könnte man jetzt ja damit anfangen, Politiker zu "schwyzern", um ihre Freiheit von Steuersünden zu überprüfen. Im Gegensatz zu IM-Tätigkeiten, die ihren Tätern "nur" als moralische Sünden angekreidet werden konnten, zwar mit erheblichen Konsequenzen für ihre jeweiligen Karrieren, aber ohne strafrechtliche Relevanz, könnten die Steuerhinterziehungen ja auch juristisch verfolgt werden... Eine interessante Frage, ob unsere Parlamente dann schrumpfen würden bzw. mancher Nachrücker plötzlich doch noch eine späte Chance bekäme??? Aber wer wird so Böses denken, es sei denn, er ist der Sketche-Schreiber für ein Kabarett und auf der Suche nach einem neuen Gag... (MOZ, 15.2.2010)

3. Abseits der "großen Politik" war für mich als Psychologen die eher beiläufige Nachricht "auf den hinteren Seiten" interessant, man habe jetzt in Amerika das Gen entdeckt, das Schuld am Stottern sei. Das entlaste viele betroffene Eltern von Schuldgefühlen, denn an Fehlern in der Erziehung könne es dann ja nicht mehr liegen ... Für die Propagandisten der Erbtheorie ein weiterer Etappensieg beim Vormarsch der Biologie in Bereiche, die früher Psychologie und Pädagogik beherrscht hatten. Auf den ersten Blick scheint es jedenfalls so, denn in den Medien werden neue Erkenntnisse meistens in einer Weise vermittelt, dass "der normale Sterbliche" immer mehr an die Wirkung der Vererbung glauben muss - oder darf.

Dagegen haben einschlägige Forscher aus dem Bereich der Neurowissenschaften, die aufgrund ihres weiteren geistigen Horizonts auch in der Lage sind, die Erkenntnisse ihrer Disziplin in größere Zusammenhänge einzuordnen, längst festgestellt, dass Gene nur dann "eingeschaltet" werden, wenn entsprechende Umwelteinflüsse sie dazu veranlassen. Also existiert zumindestens eine Wechselwirkung zwischen beiden Ursachenkomponenten. Ohne "Biologie" richtet die Umwelt wahrscheinlich nichts an, während die "Biologie" vermutlich nur dann wirksam werden kann, wenn sie von der Umwelt "eingeschaltet" wird. "Schuld" sind also immer beide gemeinsam.

Ich finde, der (von den Forschungsergebnissen her nicht gerechtfertigte) Wunsch, frei von Verantwortung für bestimmte Entwicklungen zu sein, weil sie ja "in der Natur des Menschen" lägen, ist ziemlich typisch für unsere Zeit und die in ihr bevorzugten Forschungsparadigmen. Es ist nicht gerade eine glänzende Periode für die Anerkennung des Blickwinkels von Tiefenpsychologie und den psychologischen Richtungen, die biographische/lebensgeschichtliche Forschungen in den Mittelpunkt des Interesses stellen - und damit auch die eigene Verantwortlichkeit und Veränderbarkeit. (MOZ, 15.2.2010)

4. Ebenfalls am 15.2. veröffentlicht, aber von völlig anderer Qualität: Ich lese in der MOZ eine Buchbesprechung unter dem Titel "Verbrechen auf allen Seiten - Norman Davies sieht in 'Die große Katastrophe' das Stalin-Regime keinen Deut besser als das Dritte Reich". Dieser Historiker hat gerade ein 800-Seiten-Werk über den Zweiten Weltkrieg veröffentlicht. Neue Fakten standen ihm wohl nicht zur Verfügung, aber er hat sich um eine Gesamtschau bemüht, die Einseitigkeiten vermeidet und alle "Akteure" neutral miteinander vergleicht. Die für uns Nachgeborenen kaum fassbaren Sünden und Abgründe des Hitler-Naziregimes werden dadurch nicht verringert, aber die Sünden der anderen Mächte, speziell der Stalin-Sowjetunion und des Mussolini-Italiens, die sich für ihre Macht-Bedürfnisse geschickt in die Handlungen "eingeklinkt" hatten, erhalten ihren angemessenen Stellenwert.

Der Zweite Weltkrieg lässt mich nicht los. Ich werde wohl bis zu meinem Ende darüber weiter rätseln, wie die Menschen in Deutschland mit der Katastrophe umgehen konnten. Heimat futsch, eine Welt von Ruinen, Millionen Söhne und Väter für einen Aberwitz geopfert, viele Mütter, Kinder und Alte in der Zivilbevölkerung ebenso, und alles für einen Verbrecher und seine Schergen, nichts, gar nichts für die "Nation" und die Kultur außer großer Schmach. Bewunderungswürdig, wie meine Elterngeneration trotzdem weitergemacht hat! (Wahrscheinlich mit einem "Augen zu und durch!") Ich bin ihr dankbar dafür, denn ich lebe gern, aber das Entsetzen über all die Taten und vorsätzlichen Täter (auf allen Seiten!!) dieser Zeit wird mich immer begleiten.

(MOZ, 15.2.2010. Buchbesprechung von: Norman Davies: Die große Katastrophe. Europa im Krieg 1939-1945. München 2009.)

5. Noch einmal ein ganz anderes Thema, das aber auch zu meinen "Hobby-Interessen" gehört: Männer! Offenbar hat gerade in Düsseldorf ein Kongress stattgefunden, über den die MOZ unter dem Titel "Das gefährdete Geschlecht" berichtete. Ich zitiere der Einfacheit wegen einfach eine Passage dieses Artikels:

Düsseldorf (dpa) Männer in Deutschland sterben fünf Jahre jünger als Frauen, begehen dreimal so häufig Selbstmord, und Jungen sind die eindeutig schlechteren Schüler. Vielfach fehlten den Söhnen in den Familien "emotional präsente Väter" und in Kindergärten und Schulen verständnisvolle männliche Erzieher, kritisierte der Düsseldorfer Psychoanalytiker Prof. Matthias Franz. "Es ist höchste Zeit, die kollektive Verleugnung dieser Problemzusammenhänge aufzubrechen", forderte der Experte vom Institut für Psychosomatische Medizin der Universität Düsseldorf. Rund 350 Wissenschaftler diskutieren in dieser Woche über den "gefährdeten Mann". (MOZ, 15.2.2010)

Dem ist (leider) wenig hinzuzufügen. In meinem blog über Frauen- und Männerkultur vom vergangenen Donnerstag klingt aber dieselbe "Melodie" an.

6. Das waren noch nicht alle Themen, die an diesem Tag in der Zeitung standen und mich bewegten. Ich langweile aber wahrscheinlich langsam meine Leser. Deshalb führe ich Weiteres nur noch als Aufzählung an:
  • Der Streit um die Gesundheitsprämie und die Entsolidarisierung in Deutschland
  • Dresden und die Gegendemonstration gegen den "braunen Aufmarsch": Warum wird sie so schlechtgemacht?
7. Das stand zwar (noch) nicht in der Zeitung, dafür aber auf meinem Terminplan und war mindestens ebenso beschreibungswürdig: Am 15. 2. hielt Marianne Birthler in der Berliner Urania einen Vortrag über "Das Ende der Stasi und der Umgang mit ihren Akten" im Rahmen der Urania-Reihe "20 Jahre Mauerfall".

Vielleicht ist es meinenLesern jetzt verständlicher, warum ich am 16.2. nur eine allgemeine, vergleichsweise nichtssagende Glosse geschrieben habe. Es war einfach zuviel! Stoff für einen ganzen Monat! Aber ich bin dankbar dafür, alles miterleben zu können und hoffe auf noch viele Jahre mit einem wachen Geist, der mir meine eigenen Gedanken zu den vielen Botschaften ermöglicht.

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