Donnerstag, 23. Dezember 2010

Weihnachten - nur ein Zitat?

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Es gab eine Phase in meinem Leben, da war ich sehr puristisch: Nur was einer kritisch-historischen Überprüfung standhielt, fand ich akzeptabel. Und die "Leben-Jesu-Forschung" hatte herausgefunden, dass nur wenige der im Neuen Testament geschilderten Ereignisse historisch korrekt wiedergegeben sind. Wie sollte so etwas die Grundlage einer Glaubenslehre sein können?

Heute bin ich nicht gläubiger geworden, gegenüber biblischen Texten aber viel toleranter und anerkennender und kann sie in ihrer Funktion, die keine kritische Geschichtsschreibung, sondern Tendenzliteratur ist, eher verstehen und akzeptieren.

Allerdings war es mit den Texten über Weihnachten ohnehin schon immer etwas anderes für mich als mit denjenigen über das österliche Geschehen und Pfingsten, die mir auch heute noch sehr fremd geblieben sind. Denn welche Wortgewalt spricht aus dem Lukas-Text! Weltliteratur in der Übersetzung von Martin Luther!!

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. [...]

Wie oft habe ich diesen Text seit meiner Kindheit gehört, auch selbst schon vorgelesen, fast rezitiert, denn er gehört zu den wenigen, die ich immer noch nahezu vollständig auswendig kann. Dazu die alten Weihnachtslieder, in denen es tatsächlich noch um Christi Geburt geht, nicht der rührselige Kitsch, der mit dem 19. Jahrhundert in die Welt kam!

Welch ein Ereignis, wenn die Engel auf dem Felde den verängstigten Hirten ihre frohe Botschaft überbringen! Als älterer Gymnasiast sang ich im Kirchenchor die h-moll-Messe von Bach mit. Ein Chorsatz ist der Verkündigung der Engel gewidmet, wenn auch im lateinischen Text. Er ist mir nie mehr aus dem Kopf gegangen:

Et in terra pax hominibus bonae voluntatis!

Weihnachten - ein Symbol für die Chance eines Neubeginns, denn für welch ein anderes Ereignis soll sonst die Geburt eines Kindes stehen? Für die Verheißung von Frieden für alle Menschen, so wie es die Engel der Geschichte verkünden. Und die Aussage, dass es um ganz einfache Menschen geht, die hier eine entscheidende Rolle für das Heil der Welt spielen, keine Fürsten, keine Vertreter weltlicher Macht, ohne Prunk und ohne Reichtum. Ein wunderbares Bild! Auch für mich, dem sonst christliche Theologie fern ist. Und welch ein Auftrag für alle Menschen dieser Erde! Durchaus "kompatibel" mit den ethischen Forderungen und Bildern anderer Religionen und Lehren!

Da macht es mir nichts, dass nach heutigem Verständnis weder Jahr noch Ort der Geburt Christi gesichert sind (wahrscheinlich kam Jesus nie in seinem Leben nach Bethlehem) und dass die "Jungfrauengeburt", die soviel theologischen Streit (mit gefährlichen Konsequenzen für Häretiker, die sie ablehnten) hervorgerufen hat, wahrscheinlich nur auf einem Übersetzungsfehler ins Griechische beruht. Das schmälert in meinen Augen die Sinnhaftigkeit des Bildes der Geburt Christi in keiner Weise.

Lukas war eben auch schon ein "Mann des Zitats", der weniger der Historie verpflichtet war, stattdessen aber in seinem Text, ganz tendenziös, den Auftrag sah, alle Verheißungen der Propheten der jüdischen Tradition zusammenzuführen und zu zeigen, dass sie auf Jesus als Christus zuträfen. Und nach dieser Tradition musste der Heiland der Welt, der Messias, in Bethlehem geboren werden, "um die Schrift zu erfüllen!" Seine Leser werden es so erwartet haben, nicht aber ein historisch abgesichertes Dokument.

Welche anderen zahlreichen "Anleihen" an damals gängige Vorstellungen von Mythen und Göttern im Judentum, bei den Völkern im vorderen Orient und in der hellenistisch geprägten Kultur im Mittelmeerraum in den Bibeltext eingeflossen sein mögen, darüber informiert das folgende Buch sehr trefflich:

Martin Koschorke: Jesus war nie in Bethlehem. 3. Aufl. - Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgemeinschaft 2008.

Kurz dazu ein Zitat aus dem Klappentext:

"Martin Koschorke, Theologe und Soziologe, stellt allgemeinverständlich und lebendig dar, warum die Geschehnisse so und nicht anders erzählt wurden. Damit führt er den Leser ins Innere der Weihnachtsgeschichte und zeigt, dass die emotionale und spirituelle Wahrheit manchmal anders aussieht als die historische. Koschorke hilft, die ursprünglichen Intentionen der biblischen Texte besser zu verstehen." [Text leicht angepasst von J.L.]

Mir hat in diesem Jahr die Beschäftigung mit der Weihnachtsgeschichte unter diesem Blickwinkel dazu geholfen, nicht mehr nur einäugig auf die historischen Fakten zu sehen, sondern mich gleichzeitig auch für die Rezeptionsgeschichte der biblischen Texte zu interessieren, was mein Bild ungemein erweitert.

Ich habe noch einen weiteren Gewährsmann gefunden, der mir die Augen für diese Sichtweise geöffnet hat. Ebenfalls ein sehr empfehlenswerter (und viel kürzerer) Text:

Christoph Levin: Wie aus dem Jesus von Nazareth der Christus von Bethlehem wurde. Die Weihnachtsgeschichte mit den Augen eines Alttestamentlers gelesen. - In: Weihnachten. Publik-Forum EXTRA 6/09. S. 10 - 13.





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