Donnerstag, 9. Dezember 2010

Brüder Grimm: Die Boten des Todes

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Was passt besser zu meinem letzten blog-Eintrag und zu dem Thema "Lebensgrenzen anerkennen" als das folgende Märchen der Brüder Grimm? Ich habe es schon in meinem dort erwähnten uralten Artikel über "Angst vor Krankheit und Tod" in Teilen zitiert. Hier der vollständige Text:



Die Boten des Todes

Vor alten Zeiten wanderte einmal ein Riese auf der großen Landstraße; da sprang ihm plötzlich ein unbekannter Mann entgegen und rief: "Halt! keinen Schritt weiter!" - "Was", sprach der Riese, "du Wicht, den ich zwischen den Fingern zerdrücken kann, du willst mir den Weg vertreten? Wer bist du , dass du so keck reden darfst?" - "Ich bin der Tod", erwiderte der andere, "mir widersteht niemand, und auch du musst meinen Befehlen gehorchen." Der Riese aber weigerte sich und fing an, mit dem Tode zu ringen. Es war ein langer, heftiger Kampf, zuletzt behielt der Riese die Oberhand und schlug den Tod mit seiner Faust nieder, dass er neben einem Stein zusammensank. Der Riese ging seiner Wege, und der Tod lag da, besiegt, und war so kraftlos, dass er sich nicht wieder erheben konnte. "Was soll daraus werden", sprach er, "wenn ich da in der Ecke liegenbleibe? Es stirbt niemand mehr auf der Welt, und sie wird so mit Menschen angefüllt werden, dass sie nicht mehr Platz haben, nebeneinander zu stehen." Indem kam ein junger Mensch des Wegs, frisch und gesund, sang ein Lied und warf seine Augen hin und her. Als er den Halbohnmächtigen erblickte, ging er mitleidig heran, flößte ihm aus seiner Flasche einen stärkenden Trunk ein und wartete, bis er wieder zu Kräften kam. "Weißt du auch", sagte der Fremde, indem er sich aufrichtete, "wer ich bin und wem du wieder auf die Beine geholfen hast?" - "Nein", antwortete der Jüngling", "ich kenne dich nicht." - "Ich bin der Tod", sprach er, "ich verschone niemand und kann auch mit dir keine Ausnahme machen. Damit du aber siehst, dass ich dankbar bin, so verspreche ich dir, dass ich dich nicht unversehens überfallen, sondern dir erst meine Boten senden will, bevor ich komme und dich abhole." - "Wohlan", sprach der Jüngling, "immer ein Gewinn, dass ich weiß, wann du kommst, und so lange wenigstens sicher vor dir bin." Dann zog er weiter, war lustig und guter Dinge und lebte in den Tag hinein. Allein Jugend und Gesundheit hielten nicht lange aus, bald kamen Krankheiten und Schmerzen, die ihn bei Tage plagten und ihm nachts die Ruhe wegnahmen. "Sterben werde ich nicht", sprach er zu sich selbst, "denn der Tod sendet erst seine Boten; ich wollte nur, die bösen Tage der Krankheit wären erst vorüber." Sobald er sich gesund fühlte, fing er wieder an, in Freuden zu leben. Da klopfte ihm eines Tages jemand auf die Schulter: er blickte sich um, und der Tod stand hinter ihm und sprach: "Folge mir, die Stunde deines Abschieds von der Welt ist gekommen." - "Wie", antwortete der Mensch, "willst du dein Wort brechen? Hast du mir nicht versprochen, dass du mir, bevor du selbst kämest, deine Boten senden wolltest? Ich habe keinen gesehen." - "Schweig", erwiderte der Tod, "habe ich dir nicht einen Boten über den andern geschickt? Kam nicht das Fieber, stieß dich an, rüttelte dich und warf dich nieder? Hat der Schwindel dir nicht den Kopf betäubt? Zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern? Brauste dir's nicht in den Ohren? Nagte nicht der Zahnschmerz in deinen Backen? Ward dir's nicht dunkel vor den Augen? Über das alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich jeden Abend an mich erinnert? Lagst du nicht in der Nacht, als wärst du schon gestorben?" Der Mensch wusste nichts zu erwidern, ergab sich in sein Geschick und ging mit dem Tode fort.

Brüder Grimm


Der Anfang des Märchens gibt schon Rätsel auf, sollte er nicht nur ein Kunstgriff des Erzählers sein, einen früheren Kontakt des Menschen mit dem Tode herzustellen, weil sonst die Geschichte ihre Pointe verlieren würde. Aber wie wir auch immer den Riesen interpretieren mögen, wir sind keiner, und für uns beginnt die Geschichte erst analog im zweiten Teil ...

Ich habe dieses Märchen zitiert nach: Dietrich Steinwede (Hrsg.): Wie das Leben durch die Welt wanderte. Märchen der Menschen von Tod und Leben. - Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1983. S. 16 - 18. [Ich besitze es seit 1984.]

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