Donnerstag, 1. Oktober 2009

Sind Förderschulen noch zeitgemäß? Ein Beitrag zur Debatte, ergänzt durch weitere Überlegungen zu Reformen im Behindertenbereich


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Immer lauter werden die Rufe, Förderschulen in Deutschland abzuschaffen; internationale Gremien schelten unser Schulsystem, das so viele Formen von Sonderschulen „pflege“ wie sonst nirgendwo. Unter den Prämissen von „Integration“, mittlerweile lautet das Zauberwort „Inklusion“, seien sie nicht mehr zeitgemäß und schmälerten die Zukunftsaussichten aller Kinder und Jugendlichen, die in ihnen beschult würden. Natürlich hätten sie auch große Fürsprecher, denn alle dort arbeitenden Lehrkräfte würden gern an diesem Modell festhalten, aber das sei ja Eigennutz ...

Ich sehe das sehr zwiespältig.

Einerseits habe ich lange im Fachschulbereich gearbeitet und dort durch meine Tätigkeit viel von moderner Behindertenpädagogik (oder wie sie sich sonst noch nennt, die Fachleute sind oft sehr empfindlich, dass man ihre Richtung auch mit dem akzeptierten Namen benennt …) und Heilpädagogik gehört, also auch von dem Paradigmenwechsel hin zu Normalisierung, Integration und Inklusion. Von meinen praktischen Erfahrungen in Behinderteneinrichtungen weiß ich allerdings auch um die Probleme, speziell bei Geistig Behinderten, wenn „reinrassig“ diese Prinzipien umgesetzt werden und meistens dadurch höhere Anforderungen an die Betroffenen gestellt werden, die nicht selten einen alt vertrauten „Schonraum“ dadurch einbüßen. Hätten die Betroffenen, in deren Namen alle Reformen geschehen, selbst im Vorfeld ihnen zugestimmt (sofern sie dessen mächtig sind)? Das wird von den Reformern immer als selbstverständlich angenommen – aber auch abgefragt?

Aber es soll hier ja vorrangig um Förderschulen gehen. Da bin ich besonders betroffen, weil unser kleiner Sohn Paul Jakob mit seiner schweren Sprach- und Entwicklungsstörung uns längere Zeit Rätsel aufgegeben hat, ob überhaupt und an welcher Schule er beschulbar sein könnte. Mittlerweile geht er – mit Einzelfallhelfer – in eine kleine Klasse in unserer hiesigen Allgemeinen Förderschule. Wir sind erleichtert, er vermittelt uns deutlich, dass er sehr gern zur Schule geht. In seiner Klasse sind 10 Kinder. Es ist uns unvorstellbar, wie es in einer größeren Klasse, auch als Integrationsklasse, mit ihm gehen könnte. Haben Integrationsbefürworter auch einen Paul Jakob im Blick? Da müssten die Bedingungen an Schulen hier zu Lande aber noch revolutionär verändert werden …


Diese Bedenken im Rahmen der Förderschul-Debatte trage ich schon lange mit mir herum. Vielen Befürwortern der Abschaffung von Förderschulen werde ich damit vermutlich als „Bremser“ erscheinen, aber alle meine Argumente haben einen lebenspraktischen Hintergrund.

Bereits vor knapp zwei Jahren habe ich einen diesbezüglichen Leserbrief an die Zeitschrift „Menschen“ geschrieben, die ebenfalls ein Plädoyer zur Abschaffung der Förderschulen veröffentlicht hatte.

Mein Leserbrief an die Redaktion „Menschen“ c/o Aktion Mensch v. 5.1.2008

Betrifft: „Menschen“ 1/2008, Beitrag über Förderschulen

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit großem Interesse habe ich Ihren Beitrag gelesen, in dem Sie ausdrücklich für die integrative Beschulung von behinderten Kindern werben.

Ich kann mich in die Situation gut einfühlen, weil mein kleiner behinderter Sohn im Sommer eingeschult werden muss und wir aufgeklärt wurden, dass die allgemeinen Förderschulen in Brandenburg keine 1. Klassen mehr einschulen.

So weit so gut. Doch bis zu einer erfolgreichen Integration sind dann die Hürden bei uns in Brandenburg noch hoch: Alle Kinder werden in „normale“ 1. Klassen der Grundschulen eingeschult (Ausnahmen: Förderschulen für geistig behinderte und für körperbehinderte Kinder), nehmen gegebenenfalls an einem „sonderpädagogischen Feststellungsverfahren“ teil und sollen „maßgeschneiderte Hilfe“ bekommen. Das klingt schön. Bis aber alles abgeklärt ist, verbringen auch die Kinder mit eingeschränkten Möglichkeiten Wochen, Monate, vielleicht noch länger in der Regelklasse und werden sicherlich einigen Frust aushalten müssen, wenn sie nicht mithalten können.

Denn das schöne Konzept hat einen großen Pferdefuß: Offensichtlich laufen 1. Klassen weiterhin mit 25 – 28 Schülern, es dürfte auch keinen 2. Lehrer geben, vielleicht einmal einen Kollegen, der ein Kind im Rahmen des Feststellungsverfahrens stundenweise beobachtet.

Wie soll das laufen? Ich halte dies für eine Zumutung sowohl für Lehrkräfte als auch Kinder. Denn es wird am Notwendigsten gespart, trotzdem soll es nach einer pädagogischen Neuerung aussehen. Dafür wären aber kleine Klassen und mehr Lehrkräfte bzw. weiteres Personal notwendig. Grundsätzlich gibt es mehr als genug Lehrer in Brandenburg; wegen der verringerten Schülerzahl müssen sich Lehrkräfte auf Stundenkürzungen bzw. Versetzungen im Land einstellen.

Darum: Mehr schöner Schein als Sein! Bildung darf bei uns nicht mehr kosten. Traurig aber wahr.
Vielleicht sollten Sie auch über diese sozialen/ökonomischen Rahmenbedingungen berichten, in denen Deutschland offenbar in vielen Bundesländern sehr rückständig ist.

Mit freundlichen Grüßen
Jürgen Lüder

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