Dienstag, 13. Oktober 2009

Monster, Retter und Mediokritäten

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Das ist der Untertitel des Buches von

Hans-Peter Schwarz: Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten. – München: Wilhelm Goldmann Vlg. 2001 . (= Goldmann Tb. 15087).

Von meinem vorletzten blog-Eintrag ist es nur ein kurzer Schritt zu diesem monumentalen Buch, in dem der Verfasser viele hochberühmte aber z.T. auch sehr berüchtigte Staatsmänner des 20. Jahrhunderts vorstellt (fast - aber nicht ganz - ausnahmslos Männer). Enorm, welchen Überblick er hat und welche Faktenfülle er bewältigt!

In Klappentexten wird das jeweilige inseitige Buch gerühmt, sie sind damit zumeist keine objektive Rezension. Aber bei diesem Buch, in dem ich von Zeit zu Zeit immer wieder einmal lese, finde ich das Lob angemessen! Ich zitiere:

Hans-Peter Schwarz zieht in seinem Opus magnum seine Bilanz des 20. Jahrhunderts. Ein Zeitalter wird besichtigt, in dem herausragende Charaktere die gewohnte Ordnung zerstörten und der Weltgeschichte eine neue Richtung gaben: „Monster“ wie Hitler und Stalin, „Retter“ wie Roosevelt und de Gaulle, „große Ruinierer“ wie Nikolaus II. und Wilhelm II., Freiheitskämpfer wie Gandhi und Mandela. Zum ersten Mal tritt in dieser Portraitgalerie des bekannten Historikers das vergangene Jahrhundert als Ganzes ins Blickfeld.

Ich möchte eingangs dem Vorwurf entgegenwirken, ich würde Faschismus und Kommunismus „in einen Topf“ werfen, wenn hier Hitler neben Stalin steht. Eine hirnlosere und menschenverachtendere Ideologie und Praxis als im Wirken von Adolf Hitler kann ich mir nicht vorstellen! Das ist unüberbietbar und in Idee und Ausmaß des Holocaust ein (hoffentlich) einmaliges Ereignis der Weltgeschichte, auch wenn es immer wieder „Nachfolgertaten“ im Hinblick auf Völkermorde gibt. Aber wegen ihrer Kaltherzigkeit und Brutalität im Umgang mit der eigenen Bevölkerung führt kein Weg daran vorbei, neben Hitler auch Lenin, Stalin, Mao und Pol Pot zu den großen Schlächtern des 20. Jahrhunderts zu zählen. Da ihre Taten bewusst geplant waren und sie das Leid der Bevölkerung billigend in Kauf genommen oder sogar absichtlich herbeigeführt haben, kann man sie also auch als „Mörder“ bezeichnen.

Immerhin sind alle diese kommunistischen Führer einmal von Grundideen ausgegangen, die schon viele freiheitlich gesinnte Menschen auf dieser Erde fasziniert haben und weiterhin faszinieren: eine sozialistische Gesellschaft und eine marxistische Gesellschaftstheorie dazu. Nur was haben sie und ihre Nachfolger daraus gemacht? Heutige Vertreter des Sozialismus müssen wieder sehr mühsam um das Renommee ihrer Vorstellungen kämpfen, nachdem die Altvorderen des „Realen Sozialismus“ 1989 alles heruntergewirtschaftet hatten.

Aber ich wollte ja von Stalin, Lenin und Mao reden, die eine völlig andere Dimension darstellen! Allein schon die Wucht ihrer Namen! Nach meinen Kenntnissen marxistischer Geschichtsauffassung war es immer das Volk, die Masse „kleiner Leute“, die durch ihre Arbeit erst die großen Leistungen ermöglicht hat, die dann schließlich in der „bürgerlichen Geschichtsschreibung“ irgendwelchen Potentaten zugeschrieben wurden. Also ein Geschichtsverständnis von der Basis her, nicht von den abgehobenen Führungsspitzen. Aber kaum ein Kaiser oder König hat sich jemals mehr in den Vordergrund gedrängt als diese kommunistischen Über-Kaiser. Sie haben sich in ihrer Herrschaft absolut über alle anderen hinweg gesetzt und alle vernichtet, die ihnen diese Position streitig machen wollten. (M.E. ist diese Personifizierung der erste Verrat an der Theorie …)

Da sie außerdem offenbar absolut autoritäre Persönlichkeiten waren, maßten sie sich das Recht an, „im Besitz der Wahrheit“ zu sein und von diesem Verständnis her ihre Bevölkerungen um jeden Preis umerziehen und das Leben aller völlig umgestalten zu dürfen, egal, wie viele Menschenleben das forderte. (Ein Verrat an den allgemeinen Menschenrechten und an Mitmenschlichkeit)

Die „Proletarier“ bei Marx, die die bürgerliche Welt überwinden sollten, waren Fabrikarbeiter. Die Umwälzungen, die er voraussah, waren dadurch von einem bestimmten Niveau der Produktionsbedingungen abhängig. Im Chaos der Zustände in Russland nach dem I. und in China nach dem II. Weltkrieg war der Nährboden auch so bereitet für revolutionäre Umwälzungen, aber die Proletarier in diesen Ländern waren Bauern, keine Arbeiter. Die mussten sich Stalin und Mao erst noch „heranzüchten“ durch den nachträglichen Aufbau der Schwerindustrie. Die bäuerliche Bevölkerung hat dafür geblutet, viele Millionen der Landbevölkerung sind in Russland und China bei den „Umstrukturierungen“ des Systems elendig verhungert, ohne dass es die „neuen Zaren“ bekümmert hätte. (Ist das nicht auch ein weiterer Verrat an der ursprünglichen marxistischen Theorie, vom gefühllosen Umgang mit Menschenleben ganz zu schweigen?)

Nach meinen Informationen war der marxistische Ansatz von der Theorie her außerdem immer streng atheistisch. „Religion ist Opium für das Volk“, diese eindeutige Aussage habe ich mir als Kernzitat von Karl Marx gemerkt. Dies hat Lenin, Stalin und Mao (oder ihre Apologeten) jedoch nicht davon abgehalten, einen ungeheuren Personenkult um diese Führer zu veranstalten, der quasi religiöse Züge annahm. Ich erinnere mich noch an einen Bericht von Alberto Moravia „Eine russische Reise“, in dem er von seinen Erlebnissen im Lenin-Stalin-Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau berichtete. Einbalsamiert wie die Pharaonen (die sich für göttlich hielten), aber der öffentlichen Besichtigung und andächtiger Verehrung freigegeben, ruhten dort für Jahrzehnte die Ahnväter des Marxismus-Leninismus. Reliquien einer mittlerweile vergangenen Zeit! Da waren Kaiser und Könige früher bescheidener, aber sie wären wahrscheinlich sonst auch vom Papst gebannt worden … Diese Zeiten des Toten-Kults sind wohl nach den Umwälzungen in Russland vorbei, haben aber Jahrzehnte „den Ton angegeben“, m. E. ein weiterer Verrat an der religionskritischen Grundhaltung der marxistischen Theorie.

Je mehr ich darüber nachdenke, um so stärker wird mir bewusst, das ich im Kern offenbar ein Fundamentalist bin, der sich über jegliche Form von „doppelter Moral“ und den Verrat eigener Grundsätze aufregt, sei es bei Politikern, Wissenschaftlern, religiösen Führern, Autoren, Menschen, die durch Amt und Würden oder wirtschaftliche Macht Einfluss auf andere haben. Diese Brüche sind allerdings wahrscheinlich irgendwie auch sehr menschlich und schmälern nicht automatisch die Leistung großer Persönlichkeiten. (Wenn man Biographien berühmter Menschen liest, hatten die meisten von ihnen auch irgendwelche „Macken“ und Brüche in ihrem Lebenslauf.) Bewusst aber Derartiges in diesem Ausmaß in Kauf zu nehmen und daraus ein Machtmittel zur eigenen Gewalt-Ausübung zu machen, empfinde ich als unverzeihliche Sünde gegen Menschlichkeit und intellektuelle Redlichkeit, die – gegen alle Legendenbildungen – zum unverzichtbaren Ruf dieser Personen für alle Zeiten gehören sollte, so wie Hitler den Titel eines monströsen Ungeheuers verdient hat.

Es ist natürlich einfach, sich – rückwärts gerichtet – mit solchen „kräftigen Worten" Erleichterung zu verschaffen und seinen Zorn auszudrücken. („Mögen sie ewig in der Hölle schmoren“ … nicht sehr christlich, aber vielleicht menschlich.) Das wirklich beängstigende Phänomen ist aber eigentlich ein anderes, das immer wiederkehren kann, während diese Darstellung nur Vergangenes berührt: Diese monströsen Herrscher konnten ja nur ihre Taten begehen, nachdem sie durch eine breite bis riesige Unterstützung in der Bevölkerung an ihre Posten gelangt waren. Und später hatten sie Heerscharen von Schergen, die willig ihre menschenverachtenden Befehle ausgeführt haben. D.h. sehr, sehr viele Menschen waren Mitwisser, Unterstützer und willige Helfer! Wie leicht lassen sich Menschen verführen! Wie wenig kritisch stehen sie Führerpersönlichkeiten, die vielleicht auch noch mit einem hohen Charisma ausgestattet sind, gegenüber! Bin ich selbst gegen Derartiges gefeit? Der Blickwinkel rückwärts erleichtert eine kritische Einordnung der Ereignisse. Sind wir aber alle auch kritisch genug, um gegenwärtige Ereignisse und Zukünftiges ebenfalls angemessen zu hinterfragen und Schlüsse daraus zu ziehen?

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