Freitag, 9. Oktober 2009

Selbstreinigungskräfte

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Ich bin immer wieder von dem Phänomen beeindruckt, dass ich in den vergangenen 10 Jahren mehr über die seelischen Wunden der Deutschen durch den II. Weltkrieg, ebenso aber auch von der schuldhaften Verstrickung vieler in die Taten des NS-Regimes erfahren habe als in meinen 50 Lebensjahren zuvor. Und das, obwohl ich von meiner Lebens- und Studentenzeit einer von den Jahrgängen der sog. „68-er“ bin, zu deren Markenzeichen es gehört haben soll, ihre Väter nach ihrer Beteiligung in der NS-Zeit zu hinterfragen. Ich war zwar ein eher stiller Student, aber hoch engagiert und aufmerksam und auch damals schon alles andere als gleichgültig. So leicht hätte derartiges doch nicht unbemerkt an mir vorbeigehen können!

Die Stunde für dieses Thema war aber offenbar noch nicht wirklich gekommen. Bis vergangene Sünden und Wunden bearbeitet werden (können), dauert es offensichtlich lange: Die Beteiligten wollten meistens nicht darüber reden und hatten voll damit zu tun, sich nach Kriegsende wieder „ein Standbein“ auf dieser Welt zu erarbeiten; sie sterben jetzt langsam aus. Ihre Kinder haben andere Sorgen gehabt, waren mehr damit beschäftigt, sich von „alten Zöpfen“ zu emanzipieren und in Abhebung von der Elterngeneration nach Selbstverwirklichung zu streben, als sich die Sorgen ihrer Väter und Mütter bewusst zu machen und echte kollektive Abbitte für früher zu leisten. Das sieht bei den Enkeln offenbar anders aus, wenn man den zahlreichen Veröffentlichungen Glauben schenken mag. „Eigentlich“ fühlen sie sich völlig frei von geschichtlichen Lasten, schließlich sind sie erst in großem Abstand zu den Ereignissen auf die Welt gekommen. Gleichzeitig spüren manche, dass ihnen noch „ein Klotz am Bein“ aufgrund der Taten ihrer Vorfahren hängt, der sie und ihre Familienatmosphäre untergründig belastet und nach Bewusstmachung und Auflösung drängt.

Dieser zeitliche Abstand zu den Ereignissen ermöglicht es gleichzeitig, ihnen offener gegenüberzutreten und ehrlicher zu sein: Verbrechen können jetzt als Verbrechen bezeichnet werden, Schuld kann Schuld genannt werden, Leid bleibt Leid und ein kollektives Vermächtnis, das alle Nachgeborenen in ihren Überlegungen berücksichtigen können, wenn auch in ihrem Leben wieder große Ereignisse und Entscheidungen anstehen. Und noch ein ganz wesentlicher Punkt: Verstoßene und „Vergessene“ können wieder einbezogen und geachtet werden, wie es zuletzt z.B. bei den „Kriegsverrätern“ der Fall war. (Vgl. meinen blog v. 14. September 2009!)

Somit sind wir bei 1945 angelangt. Bis 1989 sind es dann wieder knapp 45 Jahre. Wird es auch wieder zwei Generationen dauern, bis offener über alle Untaten, die im Namen des Staates und der „neuen Gesellschaft“ in der DDR begangen wurden, gesprochen werden kann? Allen voran stehen natürlich die unsäglichen Tätigkeiten der Stasi, die so großen Zwiespalt gesät und die Menschen entzweit haben. Dabei müssen sehr viele Menschen „auf beiden Ufern“ betroffen sein, die mit den alten Erinnerungen, Erlebnissen und Taten noch immer herumlaufen, ohne dass es ein wirklich offenes echtes gesellschaftliches Thema wäre, immer bis zur nächsten „Enthüllung“, wenn sich die Presse neuer (oder aufgewärmter) Informationen annimmt. Es ist kein Thema für Strafprozesse (das hat wohl vorausschauend der Einigungsvertrag ausgeschlossen), aber ebenso wenig für eine öffentliche Bearbeitung der kollektiven Verstrickung. Wer könnte sich denn da als ehemaliger DDR-Bürger wirklich heraushalten? Es war doch sicherlich ein Großteil der Bevölkerung auf der einen und/oder anderen „Seite“ beteiligt, nicht nur eine Randgruppe. Und alle haben davon gewusst. Auch ich als „Uralt-Wessi“, der jedoch seit nunmehr 16 Jahren intensiven Kontakt zur hiesigen „Binnenkultur“ in Brandenburg und zu seinen Bewohnern hat, spüre das. Wahrscheinlich ist das Thema einfach noch zu schmerzlich… Und alle wollen (und müssen) weiterhin miteinander leben. Da ist dann der Teppich groß, unter den man alles kehren kann, Ausnahmen bestätigen die Regel. So bleibt alles „schwarzweiß“ und Grautöne können noch nicht wahrgenommen werden. Vielleicht schreiben auch hier später einmal Enkel über ihre Großväter und Großmütter …


Wie mögen andere Länder, andere Nationen mit derartigen Problemen umgehen? Immerhin war das 20. Jahrhundert ja die Zeit einer Reihe „großer Despoten“, die als Henker ihrer Völker aufgetreten sind und deren Bevölkerung millionenfach dezimiert haben. Da sich solche Persönlichkeiten kaum je selbst die Hände schmutzig machen, werden sie ihre Schergen gehabt haben, die für sie tätig wurden. D.h. dass die Zahl derjenigen, die Schuld auf sich geladen haben, sehr viel größer sein muss, ähnlich wie in Nazi-Deutschland. Und wahrscheinlich gibt es auch aktuell tätige Despoten, vielleicht „kleineren Kalibers“, aber das reicht …

Sensibilisiert für dieses Thema, fand ich kürzlich einen entsprechenden Pressehinweis auf Ereignisse in Russland, der ein bezeichnendes Licht auf die dortigen Zustände wirft und zeigt, wie schwierig der Umgang mit der Vergangenheit ist:

In der Märkischen Oderzeitung vom 16.9.2009 stand folgende kleine Nachricht:

Stalin-Enkel zieht vor Gericht

Frankfurt (Oder) (MOZ) Ein Enkel des früheren sowjetischen Diktators Stalin hat die russische Zeitung „Nowaja Gaseta“ verklagt. Jewgenij Dschugaschwili fordert von ihr 310000 Dollar, weil sie Stalin verunglimpft habe, schreibt die „Süddeutsche“. Sein Ansehen sei in einer Beilage über den Gulag beschädigt worden. Dort hieß es, Stalin habe die Massenexekution von Sowjetbürgern angeordnet. Seit Jahren mahnt die „Nowaja Gaseta“ eine kritische Aufarbeitung des Terrors unter Stalin an.

Und in derselben Ausgabe ein Kommentar von Dietrich Schröder zu dieser Nachricht:

Stalin und der Gulag

Dass man in Russland immer noch Probleme mit der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit hat, ist nicht neu. Gerade deshalb überraschte kürzlich die Nachricht, dass das Buch „Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn zur Pflichtlektüre für Schüler werden soll. Der einstige Dissident hat darin jenes verbrecherische Straflagersystem beschrieben, in dem während des Stalinismus Hunderttausende ihrer Würde und ihres Lebens beraubt wurden.

An das Motto „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ – so der Titel eines Werks, das Lenin vor über 100 Jahren schrieb – erinnert dagegen eine andere Nachricht. Ein Enkel Stalins hat die Zeitung „Nowaja Gaseta“ angezeigt, weil sie seinen Großvater verunglimpft haben soll. „Stalin steht für Ströme von Blut“, hatte das Blatt geschrieben. Der Enkel beruft sich auf ein Gesetz, laut dem die Geschichte des Landes nicht verfälscht werden darf.

Kommt es tatsächlich zum Prozess, dann könnte freilich ausgerechnet dieser dafür sorgen, dass die Verbrechen des Stalinismus endlich juristisch bewertet werden müssten.

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