Dienstag, 26. Januar 2010

Wir Internet-Süchtige

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Eva Tenzer hat in der aktuellen Ausgabe von Psychologie Heute (Januar 2010) einen Artikel unter dem Titel „Permanent online: Wie die neuen Medien das Leben verändern“ (S. 32 – 36) veröffentlicht, in dem sie Vorzüge, vor allem aber auch Gefahren der immer rasanter anwachsenden Internetnutzung darstellt. Ist unser Gehirn überhaupt für eine solche Datenflut gebaut? Welche sozialen Konsequenzen haben die neuen Internetdienste wie „Twitter“ und „Facebook“ und all die anderen Möglichkeiten? Sie hat die Meinungen einiger Koryphäen zusammengetragen und mit dem Psychotherapeuten Götz Mundle ein Interview geführt. Ich zitiere hier einige Stellen, in denen mir die aufscheinenden Probleme besonders gut dargestellt erscheinen:


- Was da auf allen Diensten an uns herangetragen wird, ist eine gewaltige Datenmenge: „Die Crux an der Sache: Um die Rosinen herauszupicken, muss man sich durch eine Menge Datensalat hindurcharbeiten.“ (S. 33)

- Günter Weick und Wolfgang Schur verstehen die Attraktivität der Botschaften darin, dass sie eine Art „Steinzeitreflex“ aktivierten. „Neue Informationen, das hat uns die Evolution gelehrt, sind lebenswichtig. Wir können deshalb nicht anders, als beim Auftauchen einer neuen Nachricht den Eingangskanal automatisch ein- und alle anderen Prozesse auf Standby zu schalten.“ (S. 34)

- Alle Experten seien sich einig, dass das Gehirn Ruhepausen brauche, um Aufgaben optimal zu bewältigen. Werde man durch eingegangene Nachrichten ständig aus der aktuellen Tätigkeit gerissen, leide auf Dauer die Konzentration. (S. 34)

- Die dann eintretenden Auswirkungen benennt besonders Ernst Pöppel: „Wenn man kontinuierlich sozial vernetzt ist und sich keine Zeit mehr für sich selbst nimmt, zum eigenen Nachdenken, dann können sich keine kreativen Prozesse entfalten. Wir vernichten unsere kreativen Potenziale durch den Terror der Kommunikation“. (S. 34) Und: Ein echtes Multitasking könne es aufgrund unserer Hirnorganisation nicht geben. (S. 35)

- Noch schwerwiegender scheinen aber die sozialen Wirkungen zu sein, wenn Pöppel als Gefahr sieht, dass Nutzer zunehmend in einer virtuellen Welt leben, zu „funktionellen Autisten werden und nicht mehr in der Lage sind, in der Wirklichkeit einem Gegenüber in die Augen zu schauen. Der Verlust an empathischen Bezügen scheint mir durchaus möglich.“ So könne aus der Sicht von Sozialpsychologen das Internet niemals reale Beziehungen ersetzen, und es bestehe die Gefahr, dass mancher Nutzer dauerhaft in einer Pseudowelt lebe. (S. 35)

- Diese Befürchtung wird noch verstärkt durch die folgende Äußerung von Gerald Hüther: “Wenn jemand ständig im virtuellen Raum kommuniziert, hat es offenbar mit den realen Beziehungen nicht geklappt. Jemand, der drei gute Freunde hat und täglich sieht, braucht keine Internetplattformen.“ (S.35)


Im Folgenden zitiere ich jetzt die Kernaussagen von Götz Mundle aus dem abschließenden Interview, das vieles noch einmal „auf den Punkt“ bringt (alles S. 36):


- Grundsätzlich bieten sie [die neuen Internetplattformen, J.L.] hervorragende Möglichkeiten, sich zu vernetzen. Wie bei jeder neuen Technik liegt die Gefahr im exzessiven Umgang. Wir bemerken, dass im Onlinezeitalter viele Menschen die Fähigkeit verlernt haben, geistig und seelisch offline zu gehen, also abzuschalten, sich zu besinnen und die Seele baumeln zu lassen.

- Seelische Gesundheit entsteht nicht durch das Immermehr, sondern eher durch das bewusste Immerweniger. Aber das haben viele Daueronliner verlernt.

- Süchtiges Verhalten ist oft eine Kompensation für den Mangel an Verbundenheit mit anderen und sich selbst. Manche Menschen stürzen sich in das mediale Dauerfeuer, um persönliche Probleme zu verdrängen. Statt auf ihre innere Stimme und Warnsignale ihres Körpers zu hören, betäuben sie sich. In der Therapie stellen wir fest, dass die Antworten und Lösungen in den Patienten verborgen liegen, jedoch ganz häufig mit Müll aus dem Internet zugeschüttet sind.

- Die neuen Medien erfordern neue Wege des Stressmanagements und der Entspannung: geistigen Leerlauf, Übungen der Stille, Zeiten der Kontemplation. Wer online sein möchte, muss auch aktiv offline gehen können. Hierfür sind aktive Innenschau und die Kommunikation mit den eigenen Bildern notwendig.

- Künftige Generationen werden sicher einen noch unverkrampfteren Umgang mit den neuen Medien haben. Dennoch: Notwendig wird die Fähigkeit sein, auch ohne diese Medien leben zu können. Allerdings wird die Geschwindigkeit eher noch zunehmen, der Arbeitsstress weiter steigen. Die Zahl derjenigen, die da nicht mehr mithalten können, nimmt zu. Das macht es umso wichtiger, diese Fähigkeiten zu trainieren.


Eva Tenzer hat dies sehr ernst genommen und deshalb ihrem Artikel fünf „Strategien gegen den Infostress“ beigefügt (S. 34). Wer sie lesen möchte, möge sich den ganzen sehr instruktiven Artikel im Original beschaffen. Es lohnt sich!

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