Montag, 22. Juni 2009

Reminiszenzen - Heilpädagogik und Unterricht

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Eine schwere Geburt! Ich habe nicht geahnt, wie viel Arbeit es mir machen würde, dieses alte Manuskript in eine lesbare Form zu bringen. Vom Anliegen her lohnt es sich, denn hier steht meine ganze „Weltanschauung“ zum Thema „Ausbildung von Fachleuten/Praktikern im psychosozialen Bereich“ drin, also eine Menge „Herzblut“ und grundlegende Überzeugung, die ich auch heute (Juni 2009) noch teile. Leider ist vieles meiner Ausführungen Programm geblieben, da ich an meiner Schule zwar den Ruf als „Adler-Fan“ weghatte, damit aber trotzdem weitgehend ein Einzelkämpfer blieb und meine Kollegen nicht für eine wirkliche Zusammenarbeit gewinnen konnte. Die Ausbildung blieb m. E. weiterhin überwiegend „kopflastig“/kognitiv.

Heilpädagogik und Unterricht im Blickwinkel der Individualpsychologie



Referat von Jürgen Lüder auf der Klausurtagung der Korczak-Schule am 15.1.2000

(anschließende Verschriftlichung des Manuskripts unter Berücksichtigung der Diskussion im Kollegium)



Liebe Kolleginnen und Kollegen,


das Thema „Heilpädagogik und Unterricht“ beschäftigt mich – mit Unterbrechungen – schon seit 20 Jahren, denn es hat mich seit meiner Fachschullehrerzeit in einer ähnlich gelagerten westdeutschen Schule nie ganz losgelassen. Für mich sind seitdem Fragen entstanden, auf die ich weiterhin vernünftige Antworten suche. Dazu will ich heute meine ganz subjektiven Aussagen machen und deshalb keinen Fachvortrag z.B. über heilpädagogische Psychologie halten.


Ein Problem ist dabei für mich, dass ich kein Heilpädagoge bin, kein spezieller Fachmann. Wie kann ich da der Aufgabe gerecht werden, etwas zur Qualifizierung von Fachkräften einer anderen Disziplin glaubwürdig beizutragen?



Zwei grundlegende Gesichtspunkte zur Heilpädagogik


Bei meinen Versuchen, mir ein Verständnis von Heilpädagogik anzueignen, ergaben sich für mich zwei grundlegende Gesichtspunkte:


  1. Ich sehe Heilpädagogik als eine Fachdisziplin, die wie jede andere Spezialwissen erfordert und dabei, wie alle anderen pädagogischen Fachrichtungen auch, aus Nachbargebieten schöpft, also unter anderem auch auf psychologisches Wissen zurückgreift. Da könnte ich, mit neumodischer Wortwahl, bei der es mich persönlich aber graust, ein Modul „psychologisches Grund-/Spezialwissen“ beisteuern, so als setzte sich Heilpädagogik aus unabhängigen Bausteinen zusammen. (vgl. Anmerkung 1)


  1. Als zweiten Gesichtspunkt möchte ich nennen, dass mir Heilpädagogik immer verbunden mit einem besonderen, typischen Berufsethos erschienen ist. Es geht um eine ganz bestimmte Grundhaltung der Aufgabe des „Heilens“ / „Helfens“ / „Förderns“ / meinetwegen, mit einem moderneren Ausdruck belegt, auch des „Assistierens“ gegenüber, sehr engagiert, aber nicht eindeutig fassbar (vgl. auch Anmerkung 2).Das war jedenfalls immer wieder dann mein Erlebnis, wenn wir in meiner damaligen westdeutschen Schule als Kollegium gemeinsam mit der jeweiligen HP-Klasse zu den Jahrestagungen der Heilpädagogen nach Bad Lauterberg fuhren.


In den Vorträgen dort stand dann plötzlich der „pädagogische Bezug“, die Gestaltung einer Beziehung zwischen dem Heilpädagogen und den ihm Anvertrauten unter voller Einbringung der Person des Heilpädagogen im Vordergrund, also nicht der Spezialist mit dem detaillierten Fachwissen (das man natürlich auch braucht), der gezielte „Techniken“ anwendet, sondern der Heilpädagoge, der sich selbst als Person voll ins Geschehen mit einbringt und darauf einlässt.


Das hat mich sehr berührt, aber irgendwo auch beruhigt, weil mir plötzlich die Heilpädagogik nicht mehr so fremd war. Es lief nicht mehr so stark auf die Konfrontation „Du bist Heilpädagoge – ich bin Psychologe“ und eine säuberliche Aufteilung der Kompetenzbereiche hinaus, sondern stärker auf ein verbindendes Band des Handelns im Auftrag für die anvertrauten Menschen, nur mit unterschiedlicher Akzentuierung (vgl. auch Anmerkung 3).



Meine Orientierung an der Individualpsychologie


Mir hat seinerzeit zusätzlich geholfen, dass ich begonnen hatte, mich mit der Individualpsychologie Alfred Adlers zu beschäftigen, der von seiner Ausbildung, seinem Wissen und Tun her zwar Arzt und Psychologe war, seine Aufgabe aber besonders auch im pädagogischen Bereich gesehen hat. Eine seiner frühen Schriften heißt z.B. „Heilen und Bilden“! Speziell war er tätig in der Ausbildung von Lehrern und Helfern, damit sie ihr Wissen und Können zum Nutzen der ihnen Anvertrauten weitergeben könnten, in direkter Arbeit mit Kindern, aber auch in der Beratung von Eltern. (Vielleicht würde man das heute „Multiplikatoren-Training“ nennen …)


Von diesem theoretischen Hintergrund, der mich sehr geprägt hat, möchte ich einige Thesen ableiten, die mir besonders am Herzen liegen. Es ist mir allerdings klar, dass ihre Umsetzbarkeit im Rahmen einer Fachschule mit Lehrplänen und Zensuren erschwert ist.



Vier Thesen, formuliert aus dem Blickwinkel der Individualpsychologie


1. These:


Eine Kernaussage von Alfred Adler ist m. E. (sinngemäß zitiert): „Man erzieht mehr durch das, was man [als Persönlichkeit] ist, als durch das, was man weiß.“


Adler hat den Erziehungsbegriff insgesamt sehr weit gefasst, so dass man alle Formen des Beeinflussens subsumieren kann, die auftreten, wenn in einer pädagogischen/therapeutischen Situation ein Mensch einen anderen erziehen/lehren/fördern/therapeutisch beeinflussen/ … will, in einer Situation also, die ich ganz allgemein durch das Verhältnis „Lehrer“ – „Schüler“/“Anvertrauter“ (im weitesten Sinne) charakterisieren möchte (vgl. dazu auch Anmerkung 4).


Das hat natürlich Konsequenzen! Da meine Persönlichkeit also (mit)prägend für das Lerngeschehen ist, ebenso für das heilpädagogische Handeln, muss ich um sie wissen und ihre Wirkung einschätzen können. Ganz einfach formuliert: ich muss mich selbst kennen! Diese uralte Forderung der Psychologie ist in der Praxis allerdings nicht leicht einzulösen: Was für eine Stimmung verbreite ich, welche Erwartungen lasse ich in meinen Umgang mit anderen einfließen, wie vorurteilsfrei kann ich anderen begegnen, welche Bedürfnisse habe ich selbst bei meinem Tun und sorge – unbewusst – dafür, dass sie zum Tragen kommen, … ? Wer weiß das schon wirklich, wenn er ehrlich sich selbst gegenüber ist?


Wie aber vermittelt man solche Selbsterfahrung an einer Schule, deren Lehrpläne vorrangig gefüllt sind mit rein kognitiven Lerninhalten? Das ist sehr schwierig, doch darauf ganz zu verzichten, halte ich für einen schweren Fehler, da zukünftige heilpädagogische Praxis untrennbar mit der „persönlichen Gleichung“ jeder/s Heilpädagogin/en verbunden ist.


Auf der Ebene der Lehrenden ist es nicht anders, denn ich als Lehrer stehe meinen (erwachsenen) Schülern auch in einer derartigen Situation gegenüber. Ich bin ein Modell für sie! Mache ich es ihnen also so vorbildhaft vor, dass sie etwas für ihre eigene spätere Praxis daraus mitnehmen können? Lehrer haben einen solchen Blickwinkel in ihrer Ausbildung meistens nicht gelernt, Psychologen haben da manchmal (je nach Ausrichtung) schon einige Vorteile ...


2. These:


Die Individualpsychologie betont die Ganzheitlichkeit der Persönlichkeit, die das Bindeglied aller Teilaspekte ist. Erst durch die Zusammenschau aller dieser Teilaspekte kann ein „Verstehen“ gelingen, das jenseits eines reinen Anhäufens von Details liegt. Und diese Persönlichkeit hat eine Geschichte, hat sich entwickelt, jetzt einen aktuellen Stand erreicht und wird sich weiter entwickeln, aber immer im Rahmen der von früher mitgebrachten Voraussetzungen. (vgl. Anmerkung 5)


Ich verfolge diese These jetzt nicht weiter unter dem Gesichtspunkt einer einzelnen Persönlichkeit, aber unter der Leitidee eines ganzheitlichen Denkens, das dem Charakter einer so großen Disziplin wie der Heilpädagogik besser gerecht wird. Durch die Aufsplitterung in einzelne Fächer laufen Ausbildungen dagegen leicht in das Anhäufen von unverbundenem Detailwissen hinaus.


Wie könnten wir hingegen an unserer Schule mehr von der oben angesprochenen Ganzheitlichkeit vermitteln, dem sich Ergänzen der verschiedenen Teildisziplinen, die sich einer grundlegenden Gesamtidee unterordnen?


Traditionell „macht“ jeder Kollege sein Fach, wir wissen nur ungenau, was gerade bei anderen „läuft“. In der Tat ist bessere Information mit einem hohen Aufwand verbunden. Es ist ja auch das Anliegen unseres heutigen Treffens, an diesem Punkt mehr Abstimmung zu erzielen.


Könnten wir nicht einen solchen übergreifenden Aspekt richtig in unsere Ausbildungsordnung aufnehmen – und wie!? Dass die Schüler begreifen könnten, dass alles erworbene Wissen einem übergeordneten Zweck dient, dem heilpädagogisch sinnvollen Tun! Manchmal habe ich abschließend von Absolventinnen gehört, jetzt sähen sie auch, wie Fächer sich ergänzten und das Bild sich abrunde. Das fand ich schön! Aber war es bisher nicht eher ein Zufallsprodukt als unsere bewusste Steuerung?



3. These:


Die Individualpsychologie betont die Kooperation zwischen Menschen als Zeichen eines entwickelten „Gemeinschaftsgefühls“, sowohl als Ausdruck für den „Sinn des Lebens“ (so lautet der Titel einer Schrift von Alfred Adler im Sinne einer ethischen Grundlegung) als auch in ihrer Verbesserung als Ziel von Kindererziehung und Psychotherapie. Dabei können Kinder am Beispiel ihrer Eltern, Analysanden am Beispiel ihres Therapeuten erlernen, wie „man so etwas macht“. (Und wen man liebt bzw. wertschätzt, von dem lernt man!!)


Können wir nicht auch etwas davon lernen? Kooperation statt Einzelkämpfertum? Allerdings wird gerade das Letztere von der Berufsrolle eines Lehrers sehr unterstützt und soll überhaupt in „helfenden Berufen“ nicht selten sein. Das hat m. E. W. Schmidbauer, der sich ja mit „Helfern“ intensiv befasst hat, gut beschrieben: In Institutionen sind sich oft die „Helfer“ gegenseitig nicht „grün“ und konkurrieren um ihre Schützlinge. Das könnten wir besser machen!


4.These:


Und „last not least“ ein mir immer wieder wichtiger Punkt:


Die Individualpsychologie sieht, speziell bei Kindern, aber nicht nur bei ihnen!, hinter auffälligem Verhalten die „Entmutigung“, das Aufgeben nützlicher Verhaltensweisen mit sozialer Zielrichtung angesichts fehlender Fertigkeiten und eines nicht mehr zugetrauten Tuns. Deshalb ist für sie die „Ermutigung“ und das Vermeiden entmutigender Handlungen ein vorrangiges pädagogisches Element.


Aber gilt das nur für Kinder ?


Wir alle brauchen „Mut“ für die anstehenden Aufgaben des Lebens, besonders auch die Heilpädagogen, die wir ausbilden, die dann später als vornehmste Aufgabe ihre Betreuten ermutigen sollen zu einer eigenständigen Lebensführung.


Aber kann jemand ermutigen, der selbst entmutigt ist bzw. nie erlebt hat, wie man „das tut“?

Wieweit können wir das unseren Schülern vermitteln und vor allem selbst vormachen? Dass sie sich etwas zutrauen, etwas lernen können, sich aufmachen, diese gute Erfahrung weiterzugeben?


Hierbei habe ich immer große Mühe, denn die Notwendigkeit des Zensierens und damit Klassifizierens (a´ la´ Aschenputtel und den hilfreichen Tauben) erleichtert diese Aufgabe nicht.


[An dieser Stelle habe ich zur Illustration in meinem Vortrag die Geschichte von Helmut erzählt, der als Legastheniker eingestuft war und den ich über Jahre hinweg als Familienhelfer betreut habe. Ich bewundere rückblickend seine Durchhaltekraft und seinen Einsatz, trotz ständiger schulischer Misserfolge nicht aufzugeben und immer weiter zu üben, sicherlich kein Regelfall! Immerhin schaffte er es, in einem „Regeldiktat“ seine Fehlerzahl zu halbieren, eine große Leistung! Aber seine anfänglichen 30 Fehler ergaben eine „6“, seine späteren 15 Fehler waren immer noch eine „6“. Kommentar zur pädagogischen Wirkung überflüssig …]



Nachwort


Im Anschluss an mein Referat haben wir um Fragen der Notwendigkeit eines „Ethos“ diskutiert, ja regelrecht gestritten. Beim Ausarbeiten meines Manuskripts merke ich jetzt selbst, dass derartiges den „roten Faden“ meiner Ausführungen bildet, was ursprünglich gar nicht von mir geplant war! Das gilt sowohl im Hinblick auf einen möglichen „Berufsethos“ von Heilpädagogen, als besonders aber auch auf den Ethos, d.h. den Anspruch, den wir als Lehrkräfte an die von uns vermittelte Ausbildung stellen können/sollten/wollen. Dies ist zu verstehen im Sinne eines übergeordneten Ziels, eines „Sinns“ unserer Ausbildung.


Vielleicht kann man viel davon „operationalisieren“ und einem verbindlichen Lehrplan unterordnen. Ich meine, dass dann aber immer noch eine Menge an Motiven und „gelebtem Leben“ an unserer Schule bleibt, die sie auszeichnet und mir das Gefühl gibt (neben der Möglichkeit, hier meinen Lebensunterhalt zu verdienen), dass hier ein Ort ist, eine Aufgabe, für die ich gerne arbeite und wo ich meine Ideen und mein Engagement einbringen möchte.



Anmerkungen


Anmerkung 1: Ich sehe beim „Denken in Modulen“ die Gefahr, dass ich nur noch meinen in sich abgerundeten „Baustein“ sehe, nicht mehr aber die gesamte Struktur im Auge habe, aus der heraus sich seine Notwendigkeit überhaupt erst ergibt und ihm seine besondere Prägung und Verzahnung verleihen sollte. So wie schon vor langer Zeit die Gestaltpsychologen erkannt haben, dass „das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile“, eine Melodie mehr ist als eine Aneinanderreihung von Tönen. Ohne ein Verständnis der besonderen Merkmale von Heilpädagogik, ihres besonderen „Wesens“, kann ich m. E. nichts wirklich Vernünftiges beitragen. Sehen das die „Modul“- Lehrtechniker anders?!


Anmerkung 2: Ich habe bewusst darauf verzichtet, eine Definition von Heilpädagogik zu versuchen, denn ich möchte mich nicht in die dortige kontroverse Diskussion einschalten, die mich auch überfordert. Ich gehe vielmehr von einem pragmatischen Verständnis aus, wie es sich für mich durch das Zusammentreffen mit Heilpädagogen und der von ihnen benutzten Argumente/Redeweisen ergibt.


Anmerkung 3: Wir haben am Klausurtag auch über die wiss. Heimat von Heilpädagogik diskutiert, damit über ihre „Kernfächer“. M.E. ist für unsere doch ganz pragmatische Ausbildung aber dieses „Handeln“ der Kern- und Angelpunkt. Deshalb würde ich diesen Aspekt in den Mittelpunkt stellen, dem alle Fächer zu dienen hätten.


Anmerkung 4: In der Diskussion kam die Frage auf, ob wir als Schule für erwachsene Schüler überhaupt einen „Erziehungsauftrag“ hätten. In diesem weiteren Sinne, wie oben ausgeführt, halte ich dies nicht für eine Frage, sondern eine Tatsachenfeststellung!


Anmerkung 5: Auch hier trifft wieder die Aussage der Gestaltpsychologie zu, dass alle Teile einer Ganzheit strukturhaft aufeinander bezogen sind! Vgl. Anmerkung 1.

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