Dienstag, 30. Juni 2009

Dinosauria IV: Bedarfe

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Woran wird mein Dinosaurier-Charakter am deutlichsten sichtbar? An meinem altmodischen Sprachgebrauch! Dazu gehört sicherlich meine Abneigung gegen ständige Anglizismen, geschenkt! Vieles davon ist sicherlich nur „slang“ und damit einfach nur modisch.

Gefährlicher finde ich die Umdeutungen älterer Begriffe, die auf den Kopf gestellt werden und plötzlich eine ganz andere Bedeutung erhalten. Mein berühmtestes Beispiel: die Hartz-„Reformen“, die im Gegensatz zu früher keine Verbesserungen für das Gros der Bevölkerung gebracht haben, sondern deutliche Einschnitte ins soziale Netz.

Und dann gibt es noch die Wort-Neuschöpfungen, die oft mit einem sehr „neoliberalen“ und rein betriebswirtschaftlichen Denken einhergehen. Sie kann ich am wenigsten leiden … (Aber wer fragt schon mich.)

Ein besonders hässliches Wort ist dabei für mich „Bedarfe“. Von früher her kannte ich es überhaupt nicht. Jetzt wird es in einschlägigen Kreisen ständig ganz selbstverständlich verwendet und hat die mir von früher her vertrauten „Bedürfnisse“, die Menschen halt so entwickeln und gern erfüllt bekommen würden, offenbar in der Fachsprache verdrängt. Eine ehemalige Kollegin verwendete diesen Begriff in einem Praxisauftrag für die Praxisphase einer Erzieherklasse, die ein Projekt planen sollte. Im Sozialausschuss meiner Heimatstadt stellten Träger sozialer Einrichtungen ihre Konzepte vor und redeten nur von den Bedarfen des Klientels.

Ich habe länger darüber gegrübelt, warum ich diese Wort-Neuschöpfung so hässlich finde und bin mir endlich auf die Spur gekommen: „Bedürfnisse“ haben lebendige Menschen, bei „Bedarfen“ sind diese zu Zahlenkolonnen und ökonomischen Daten geronnen, die für abstrakte Planungen herhalten müssen und je nach Haushaltslage realisiert, gekürzt oder sogar eingespart werden. Statistik und Finanzen. Schlimmstenfalls verschwinden die „diese Leistungen Nachfragenden“ ganz dahinter.

Mein Sohn Paul Jakob hat die Bedarfe, häufiger Bücher und Videos aus der Bibliothek auszuleihen, auch einmal ins Kino zu gehen und ein Eis zu essen. Wir werden einen Plan aufstellen, in welcher Häufigkeit diese Maßnahmen möglich sind, wann dafür Zeit einzuplanen ist und welcher Etat (sprich: Portemonnaie von Mama oder Papa) dafür noch zur Verfügung steht oder ob ein Nachtragshaushalt bewilligt werden muss. Wir werden darum streiten!

Dann ist mir noch eine weitere Quelle meines Verdrusses eingefallen. In meiner nun doch schon lange zurückliegenden Schulzeit haben wir viele Kurzgeschichten gelesen und interpretiert. Sie waren damals modern und dienten als gutes Vehikel für engagierte Schriftsteller, Kritik an gesellschaftlichen Prozessen auszudrücken. Ich erinnere mich besonders an Heinrich Böll! Eine seiner Geschichten hieß, wenn ich mich recht erinnere: „Die ungezählte Geliebte“. Kurz der Inhalt: Ein junger Mann verdient, wahrscheinlich als Studentenjob, sein Geld als Verkehrszähler auf einer Kölner (?) Rheinbrücke. Aus statistischen Gründen muss er alle Verkehrsteilnehmer in Strichlisten aufführen. Fußgänger, Radfahrer, Autos, Lastwagen, Busse. Alle Menschen werden zu Strichen, dann zu Zahlen und dann verrechnet. Nur eine hübsche unbekannte junge Frau, die ihm sehr gefällt und die täglich die Brücke überquert, zählt er nicht mit. Sie soll ihre Seele behalten und nicht zu einem beliebigen Strich werden. So ähnlich muss die Geschichte sein, die ich seither nie wieder gelesen habe, die mir aber jetzt eingefallen ist.

Sie gefiel mir damals und heute noch viel mehr!

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