Donnerstag, 30. April 2009

Reminiszenzen: Jugend und Alkohol

.
Meine beiden in den letzten Tagen hier aufgeführten Unterrichtstexte haben mich dazu ermutigt, weitere ältere Ausarbeitungen von mir in meinem blog zu veröffentlichen, bevor sie ganz in Vergessenheit geraten.

Wenn ich bedenke, dass der folgende Text bereits fast 25 Jahre „auf dem Buckel hat“, so sind seine Hauptaussagen – leider ! – immer noch sehr aktuell. Höchstens ist das Einstiegsalter für den Alkoholkonsum noch weiter heruntergegangen, betrinken sich mittlerweile auch immer häufiger Mädchen und hat sich durch das „Koma-Saufen“ die Gesamtsituation eher noch verschärft. Das führt aktuell zu bestürzenden Berichten und Statistiken von den akut in Kliniken eingelieferten Kindern und Jugendlichen, die in großer Regelmäßigkeit in den letzten Monaten in den Tageszeitungen erscheinen.


Veröffentlicht wurde der folgende Text erstmalig im Themenheft „Aufklärung über Alkohol“ von „miteinander leben lernen“, Zeitschrift für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie, 10.Jahrgang 1985, H.5., S. 22 – 26.


Jugend und Alkohol

Jürgen Lüder

Schon seit Jahren werden immer wieder alarmierende Berichte veröffentlicht, die den in erschreckendem Umfang anwachsenden Alkoholkonsum von Kindern und Jugendlichen aufzeigen. Ihre Auswirkungen auf das Bewusstsein der Allgemeinheit scheinen aber sehr gering zu sein. Wie eh und je preist die Werbung Alkohol mit Attributen wie „männlich“ und „erfolgreich“, Vorstellungen, die insbesondere Jugendlichen sehr imponieren.

Das Einstiegsalter zum Alkoholkonsum hat sich vorverlagert. Lag es in den 60ger Jahren noch bei zehn bis vierzehn Jahren, so heute bereits bei acht bis zwölf. Nach einer Untersuchung in Schleswig-Holstein sind 17% der Jugendlichen als starke Trinker anzusehen, d.h. ein Sechstel bewegt sich auf das mögliche Schicksal eines Alkoholabhängigen hin, eine Quote, die heute bereits in der UdSSR erreicht ist. Dort wurde der Alkohol zum „Staatsfeind Nr. 1“ erklärt.

Neueste Zahlen aus Berlin weisen in eine ähnliche Richtung. Danach sind 9% der Zehntklässler als akut alkoholgefährdet anzusehen, weitere 13% neigen zu starkem Konsum, und nur 6% leben abstinent. Die Verfasser der Berliner Studien vermuten, dass es sich bei den Vieltrinkern um Jugendliche handelt, „die Formen passiven Protestes praktizieren, … weil sie aus Resignation, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, wegen empfundener Sprachlosigkeit, Kommunikationsverlust, Entfremdung und Lieblosigkeit, die sich in der Gesellschaft ausbreitet, glauben, anders nicht durchhalten zu können“ (1).

In diesem Aufsatz soll genauer der Frage nachgegangen werden, wie es zu dieser starken Bedeutung von Alkohol für Jugendliche gekommen ist, was ihr Trinkverhalten prägt und wer besonders gefährdet ist. Ein allgemeiner Ausweg aus dieser Misere erscheint z.Zt. utopisch, jedoch sollen abschließend einige Hinweise versucht werden.

Volksdroge Alkohol

Trotz dieser beunruhigenden Zahlen wäre es ein Irrtum, im Alkohol ein spezielles Jugendproblem zu sehen, eher schließen sich diese einem gesellschaftlichen Trend an, nachdem die Zeit des Protestes Anfang der 70ger Jahre, in denen viele Jugendliche andere Drogen bevorzugten, abgeklungen ist.

Alkohol ist unsere Volksdroge, deren Verbrauch sich in den letzten 30 Jahren vervierfacht hat. Gesellschaftlich anerkannt, als Genussmittel und Seelentröster geschätzt, von der Werbung mit verlogenen Werten bedacht, ein Wirtschaftsfaktor ersten Ranges, an dem auch der Staat Milliarden verdient, wird seine Wirkung allgemein verharmlost. Nur die Alkoholkranken werden als „willensschwach“ und „charakterlos“ ausgegrenzt, obwohl ihre Zahl mittlerweile bei zwei Millionen, darunter 10% Jugendliche, liegen dürfte. Aber: „Krank sind immer die anderen“, und wie schal wäre für viele Menschen das Leben ohne Alkohol! Feiern, Geselligkeit, Freizeit und Fernsehen sind für sie mit Alkoholkonsum gekoppelt, er verhindert Langeweile, hilft beim Einschlafen, gibt morgens „Schwung“, ein vermeintlicher Tröster und Stimmungsaufheller für alle Lebenslagen, für viele auch am Arbeitsplatz.

Der durch Alkohol geglättete Seelenfrieden ist aber sehr brüchig, hinter ihm lauern Einsamkeit, Verunsicherung, Ängste und Depression, der Verlust an echten Werten und Zielen, für die es sich nüchtern, unter Einsatz aller Kräfte, einzusetzen lohnte. Erich Fromm sieht im Konsumenten den „ewigen Säugling“, der nach der Flasche schreit und nicht erwachsen werden will. Denn dies hieße, sich mit Kummer und Leid auseinanderzusetzen, Langeweile durchzustehen und echte Kommunikation zu Menschen zu suchen, ohne den bequemen Weg zu gehen und alle Schwierigkeiten gleich mit Alkohol wegzudämpfen oder die Stimmung künstlich anzuheben. Auch der Verlust an Familientraditionen, durch die früher das Trinken stärker ritualisiert war, und das allgemein erleichterte anonyme Kaufen von Alkoholika dürften eine Rolle spielen.

So wachsen Kinder in eine Welt hinein, in der Alkoholkonsum weitgehend selbstverständlich ist. Wer ihn hinterfragt, gilt eher als Sonderling.


Entwicklung des Trinkverhaltens

Lernprozesse zur Übernahme von Selbstverständlichkeiten laufen zumeist unbewusst oder jedenfalls ohne absichtliche Planung ab. So wird die Einstellung zum Trinken bei Kindern durch das Vorbild der Eltern geprägt, lange bevor sie selbst erstmalig Alkohol zu sich nehmen. Wenn der Vater stets beim Fernsehen sein Bier trinkt, wird sich in ihnen die Anschauung ausbreiten, zu einem gemütlichen Abend gehöre unverzichtbar Alkohol. Und da das Verhalten der Erwachsenen zur Nachahmung reizt, werden sie neugierig sein, selbst auszuprobieren, was am Biertrinken so erwachsen ist.

Später setzt auch eine mehr bewusste Erziehung ein, häufig verbunden mit religiösen Festen wie Konfirmation oder Firmung. Der Jugendliche gilt jetzt schon als halber Erwachsener und wird in deren Welt eingeführt, indem er an ihren Genüssen teilhaben darf. Alkohol bei derartigen Gelegenheiten könnte man fast als „Initiationsritus“ bezeichnen.

Zunehmende Bedeutung gewinnen dann die peer groups der Gleichaltrigen, in denen oft Alkoholgenuss eine wichtige Rolle spielt und die sozialen Druck zur Anpassung auf alle ausüben, die sich zugehörig fühlen möchten. In dieser labilen Phase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, in der die Jugendlichen noch keine feste Identität gefunden haben, dient Alkohol leicht zur Antizipation der Rolle, erwachsen und evtl. männlich zu sein. Wer viel trinkt, kann Anerkennung finden und seinen Status verbessern. Gesellschaftlich wird dies noch gestützt, wenn man bedenkt, dass in vielen Gaststätten und Discos Bier immer noch das billigste Getränk ist.

Weiterer sozialer Druck in Richtung Alkoholkonsum entsteht oft für den Jugendlichen beim Eintritt ins Arbeitsleben, wenn er sich dem Trinkverhalten der Kollegen anzupassen versucht.

Ist der anfängliche Grund des Trinkens oft Neugier oder der Wunsch nach Geselligkeit, so kann der Jugendliche dann aber entdecken, dass sich viele Schwierigkeiten, die mit seiner altersgemäßen Entwicklung und den für ihn ungelösten Problemen von Arbeit, Liebe und Freundschaften, aber auch mit den Widersprüchen unserer Gesellschaft zusammenhängen, durch Alkohol wegdämpfen lassen: „Angst vor einer unsicheren Zukunft ohne Berufsausbildung und Arbeit, Angst vor dem Leistungsdruck in der Schule, Langeweile und das Gefühl der Sinnlosigkeit lassen sie nach dem Vorbild der Eltern zur Flasche greifen. So kommen sie ‚schneller über den Berg’, wie es ihnen die Werbung verspricht“ (2).


Erziehung zur Sucht

Alle Jugendlichen, die so den Alkohol wiederholt zur Spannungsminderung brauchen, um Erleichterung gegenüber Ängsten, Hemmungen und Problemen zu finden und ihre Stimmung zu verbessern, sind als Problemtrinker besonders gefährdet, abhängig zu werden. Als kritisches Alter gelten die Jahre von 14 bis 16, besonders dann, wenn der erste Rausch schon vor dem 12. Lebensjahr erlebt wurde. Bedenken muss man hier auch körperliche Faktoren: Ein Erwachsener mag zehn Jahre lang im Übermaß Alkohol trinken, bis er abhängig wird, bei dem noch weniger widerstandsfähigen Organismus eines Jugendlichen genügt bereits ein halbes bis ein Jahr zur Suchtentwicklung.

Betrachtet man den familiären Hintergrund solcher Jugendlicher, so finden sich in ihrem Leben gehäuft folgende Schwierigkeiten: Stark gefährdet sind Jugendliche aus Alkoholikerfamilien, wobei eine trinkende Mutter einen besonders schädigenden Einfluss auf ihre Kinder hat. Oft stammen sie auch aus „Broken-home-Situationen“, unvollständigen Familien, in denen sie wenig Geborgenheit und verlässliche Beziehungen erleben konnten.

Entscheidenden Einfluss scheint aber das emotionale Klima in der Familie zu haben. Gibt es den Kindern keinerlei Möglichkeiten, Konflikte eigenständig zu bewältigen, sei es durch übergroße Strenge oder andererseits durch eine sich überbesorgt oder extrem permissiv verhaltende Mutter, so entwickeln „Jugendliche … aufgrund einer derartigen Erziehungshaltung ihrer Mütter das Unvermögen, ihr eigenes Leben strukturierend in die Hand zu nehmen, sie verfallen statt dessen in eine ‚resignative Passivität’“ und können nicht „in effektiver Weise anstehende Probleme … lösen. Als möglichen Ausweg sehen sie dann Alkoholisierung, die ihnen einen vermeintlichen Fluchtweg aus der feindlichen Realität ermöglichen soll“ (3).

Viele der aufgezeigten Gefährdungen lassen sich im folgenden Fall wiederfinden.


„Hau ab, du Flasche!“

Ann Ladiges schrieb dieses Jugendbuch, in dem die „Karriere“ eines Jungen gezeichnet wird, der sein Leben durch Alkohol zerstört (4).

Roland ist ein Einzelkind, das die besorgte Mutter verzärtelt und auch später deckt, während der Vater ihn wegen seiner Weichheit verachtet. Mit „hau ab, du Flasche!“ weist er ihn von sich, als der Sechsjährige Angst hat, hinter einem gleichaltrigen Mädchen im Schwimmbad gleichfalls vom Drei-Meter-Brett zu springen.

Alkohol spielt eine große Rolle in der Familie, in der es häufiger zwischen den Eltern kriselt. Der Vater betrinkt sich bei Kollegentreffen und konsumiert sein Bier beim Fernsehen, während die zu Depressionen neigende Mutter „rote Pillen“ schluckt und häufiger morgens ihren Sekt braucht, „um in Schwung zu kommen“.

Mit dem auf einer elterlichen Party stehengebliebenen Alkohol berauscht sich der Siebenjährige erstmalig, die Mutter hatte ihn schon manchmal vom Sekt nippen lassen. In der Schule spielt er anfangs den Klassenclown und hat keine Freunde. Als Roland 13 ist und in die 7.Klasse geht, verführt ihn der angeberische, von allen bewunderte Buddy zum Schnapstrinken. Roland stiehlt für ihn eine Flasche, um seine Anerkennung zu gewinnen. In der Folge beginnt Alkohol für ihn eine immer beherrschendere Rolle zu spielen, was er aber lange vor den Eltern verheimlichen kann. Auf diesem Weg wird er immer schlechter in der Schule, beginnt zusammen mit Buddy zu schwänzen, braucht schließlich auch während der Unterrichtszeit seinen „Flachmann“ und bestiehlt Eltern und Kaufleute, um sich Nachschub an Alkoholika zu verschaffen. Durch die Freundschaft zu einem Mädchen kann er sich zeitweilig fangen, auch ein verständnisvoller Lehrer bemüht sich um ihn, schafft es aber nicht, Roland und seine Eltern vom Ernst der Situation zu überzeugen und sie zum Besuch einer Beratungsstelle zu bewegen.

Besonders krisenhaft sind für Roland Problemsituationen, in denen er etwas leisten müsste. So scheitert er an dem Vorhaben, für seine Freundin zum Geburtstag eine Figur zu töpfern, und flieht stark angetrunken von ihrer Party. Kurz vor seinem 17. Geburtstag weist ihn der Vater nach einem Diebstahl aus der Wohnung. Roland betrinkt sich so stark, dass er als „hilflose Person“ zum Entzug in eine Klinik eingewiesen werden muss. Die aufgeschreckten Eltern gehen auf seinen Wunsch ein, die Schule zu verlassen. Der Vater vermittelt ihm als „letzte Chance“ ein Bewerbungsgespräch in einem Foto-Geschäft. Am Tag vor dem Vorstellungstermin trifft Roland noch einmal die beiden Menschen, die in seinem Leben Hoffnung und Niedergang verkörpert hatten: den hochgeschätzten Lehrer, der ihn auf seine Verantwortung für sich selbst und ein Leben ohne Alkohol hinweist – und Buddy. Buddys Einfluss ist stärker; beide betrinken sich erneut, und Roland versäumt die Vorstellung.


Veränderungsmöglichkeiten

Alkoholkonsum ist so stark mit unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit verbunden, dass eine baldige vernünftigere Einschränkung kaum zu erwarten ist. Die Vermeidung eines weiteren Anstiegs wäre bereits ein Gewinn. Langfristig könnte Schweden ein Vorbild sein, mit Lizensierung des Verkaufs und Werbeverbot, Ziele, an die sich z.Zt. in unserem Land kaum ein Politiker herantraut.

In kleinerem Rahmen können aber durchaus Eltern und Erzieher einen Beitrag zu einer positiven Konsumerziehung der Jugend leisten, indem sie ihr eigenes Trinkverhalten reflektieren und den Kindern vorleben, dass es gerade mit weniger Alkohol sinnvolle Freizeit, Geselligkeit und Freude am Leben geben kann. Ermutigen sie die Kinder zu einer eigenständigen Lebensführung ohne Ausweichen vor Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten, so werden diese auch außerhalb der Familie sinnvolle Möglichkeiten erkennen und leichter den Verführungen des Alkohols widerstehen können, denn „wer sein Leben sinnvoll empfindet, braucht kein Suchtmittel“ (5).


Literatur

(1) Studie der FU Berlin, zit. Nach Psychologie Heute 1985, H.6, S. 11.
(2) Ann Ladiges , Schneller über den Berg? Klasse Sept./Okt. 1978, S. 10.
(3) K.J. Kluge u. B. Strassburg, Wollen Jugendliche durch Alkoholkonsum Hemmungen ablegen, Kontakte knüpfen bzw. ihre Probleme ertränken?, Praxis der Kinderpsychologie 1981, S. 31.
(4) Ann Ladiges, Hau ab, du Flasche!, Reinbek 1978.
(5) Ulrich Klein, Lehrer und suchtgefährdete Schüler, Praxis der Kinderpsychologie 1980, S. 302.

Wolfgang Geißler, … damit alles ein bisschen leichter wird, Weinheim 1981.

Keine Kommentare: