Mittwoch, 20. Oktober 2010

Stuttgart 21

In Wahlen steht ein Gewinner stets von Anfang an fest: Die Partei der Nichtwähler! Ihre Stimmenzahl nimmt immer mehr zu und signalisiert offenbar einen stetig größer werdenden Abstand vieler Menschen zum üblichen Politikbetrieb. Wahrscheinlich haben sie nicht mehr den Eindruck, durch ihre Wahlmitwirkung irgendetwas Sinnvolles bewegen zu können – oder sie misstrauen allen Parteien und fühlen sich von keiner mehr „gemeint“.

Auf der anderen Seite nimmt auch die Zahl von Bürgerinitiativen immer mehr zu, die großen Unmut ausdrücken, zunehmend zahlreiche Anhänger um sich scharen und es schaffen, durch verschiedene Stufen von Volksentscheiden hindurch direkten Einfluss auf die staatlichen Planungen und Gesetzgebungsverfahren zu nehmen z. T. mit erstaunlichem Erfolg! Oder durch immer stärker werdende Proteste die Mächtigen „vorzuführen“ und Gespräche zu erzwingen, wie jetzt bei „Stuttgart 21“.

Das finde ich grundsätzlich eine positive Entwicklung! Immer mehr Menschen wollen Einfluss nehmen – und sich nicht alles gefallen lassen, was da oft auf sehr undurchsichtigem Weg „von oben“ her geregelt wird, auch wenn es offiziell auf legalen demokratischen Pfaden verabschiedet wurde. Wer weiß, welche neoliberalen und wirtschaftstreuen Lobbyisten als Einflüsterer im Hintergrund gestanden haben … Jedenfalls kann ich mich solcher Eindrücke bei vielen „Reformen“ der letzten Jahre nicht erwehren, speziell jetzt in der schwarz-gelben Koalition, aber auch schon zuvor.

Diese Freude hat aber auch einen Dämpfer! Denn es melden sich dann ebenfalls Stimmen zu Wort, die Meinungen – z. T. mit großem Nachdruck und sehr viel Unterstützung – durchzusetzen versuchen, mit denen ich nichts, aber auch gar nichts „am Hute“ habe. Bei denen ich nur sagen kann „behüte uns Gott…“. Aber wer A sagt, muss dann auch B ertragen, das von anderen wertgeschätzt wird. Es wird noch heftig werden in unserem Land! Und „Gutmenschen“ (welch garstiges Schimpfwort! In den Augen vieler werde ich auch dazu gehören …) werden sich warm anziehen und ein Regencape stets mit sich führen müssen…

Ich will diese Vielschichtigkeit kurz erläutern:

- Große Sympathie habe ich für alle, die nach den neuen „Atom-Reform-Gesetzen“ der herrschenden schwarz-gelben Koalition dagegen aufstehen und sich wehren, fast wie „in alten Zeiten“.

- Größte Bauchschmerzen verursacht es mir allerdings, wenn in Hamburg eine Bürgerbewegung es schafft, die vernünftigen Schulreformen der Regierung, die auch von der Opposition unterstützt wurden, völlig zu kippen. Da hat offenbar eine Mehrheit aus der Mittelschicht der Bürger ihre Interessen verteidigt, nämlich die privilegierte Ausbildung ihrer Kinder, und Versuchen, die Kinder „von denen da unten“ mehr einzubeziehen, eine klare Absage erteilt. Irgendwie auch eine Form von „Kulturkampf“…

- Erschreckend fand ich ebenfalls den Verlauf der „Sarrazin-Debatte“. „Die“ Politik verstört und auf Abwehr, „das Volk“ z. T. Herrn Sarrazin bejubelnd, dass da endlich einmal jemand Mut hat und Klartext spricht (auch wenn er z. T. „das Kind mit dem Bade ausschüttet“). Schon lange habe ich vor, etwas zu Herrn Sarrazin und seinen biologistischen Vorstellungen von Intelligenz zu schreiben; vielleicht gelingt mir das noch in den nächsten Tagen.

Ganz schwierig finde ich dagegen eine fundierte Stellungnahme zu den Ereignissen von „Stuttgart 21“. Das ist schon „ein starkes Stück“, wenn ein durch zahllose Gremien verabschiedetes und „in Sack und Tüten“ gesetzlich und juristisch angeblich wasserfest gemachtes Projekt nach so vielen Jahren Vorlauf plötzlich massiv behindert wird.

Auf der anderen Seite: Warum soll es nicht möglich sein, dass gesellschaftliche Projekte wieder umgestoßen werden, weil alle aus den veränderten Rahmenbedingungen gelernt haben, dass etwas ganz anderes herauskommen würde als ursprünglich geplant? Auch einen Irrtum muss man zugeben können! Und Konsequenzen daraus ziehen, solange es noch möglich ist. (Immerhin nehmen CDU/CSU/FDP in der Atomfrage jetzt Derartiges für sich in Anspruch …)

Ich habe versucht, mich etwas sachkundig zu machen. Da war bisher der folgende Beitrag für mich am aufschlussreichsten:

Rennbahn in der Randlage. Das Projekt „Stuttgart 21“ und die Neubaustrecke nach Ulm sind ein verkehrspolitischer Irrweg. Die Großinvestition bietet kaum Vorteile für den Fernverkehr. Andere Schienenprojekte wären weit wichtiger. Fachleute und sogar ein Bahn-Vorstand warnten frühzeitig – und wurden übergangen. Von Christian Wüst. In: DER SPIEGEL. Nr. 37/2010 v. 13.9.2010. S. 140 – 142.

Wenn das im SPIEGEL Mitgeteilte stimmt, hängt ungeheuer viel Prestige, Macht und Profit an der Durchführung dieses Projekts, das aber für die Allgemeinheit viel zu teuer ist und nur bescheidene Entwicklungen für Deutschland bringt (denn bei der Dimension des notwendigen Investitions-Betrags ist es kein alleiniges Stuttgarter Projekt, sondern fordert das Portemonnaie von uns allen.)

Offenbar wäre es ein großer Gesichtsverlust für die mächtigen Befürworter und Betreiber in Wirtschaft und Politik, noch einmal zu reflektieren und auch eine Irrtumsmöglichkeit einzugestehen. Wie lange werden die Protestanten durchhalten? Jedenfalls ändert sich unsere Republik in irgendeiner markanten Weise in den nächsten Monaten, dafür muss man kein Orakel sein.

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P.S. vom 22.10.10

Ich habe gerade noch einen Zettel mit einer bemerkenswerten Pressemitteilung v. 4.10.10 wiedergefunden, in der von einer irrwitzigen Morddrohung gegen Bahnchef Grube berichtet wird, der daraufhin gemeinsam mit seiner Familie unter Polizeischutz gestellt wurde.

Das kann nur die Tat eines "irren Trittbrettfahrers" gewesen sein oder die "genialische Idee" eines Vollidioten, der sein Gehirn ausgeschaltet hatte oder bewusst der Bürgerbewegung, die in Stuttgart protestiert, massiv schaden wollte. Denn eines ist klar: Ein Einlenken der Bahn wird er nie erreichen, eher im Gegenteil. Und die Gegner der Protestaktionen können sich freuen, denn was könnte die Demonstranten mehr in Misskredit bringen als der Vorwurf, sie schreckten vor nichts zurück...

Zum Glück habe ich seither nichts mehr davon gehört.

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