Mittwoch, 28. Januar 2009

"in meiner Kindheit wussten sich die Jugendlichen noch zu benehmen ..."

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So oder ähnlich habe ich meine Eltern – in meiner Kindheit! – noch im Ohr, wenn sie sich über Jugendliche beklagten, die sie frech und aufmüpfig oder von ihrem Verhalten her einfach unverständlich fanden. Mir kam das Urteil damals schon etwas ungerecht vor, obwohl ich zu den „Braven“ zählte, die Derartiges nicht taten, weil sie entweder ihren Eltern gefallen wollten, sich nicht recht trauten oder durch ihre wie auch immer beschaffene Andersartigkeit nur wenig Gemeinsames mit den Geflogenheiten der gerade aktuellen Jugendkultur hatten.

In den letzten Jahren habe ich mich nun dabei ertappt, dass mir manchmal ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen sind. Peinlich? Oder einfach altersbedingt? Zum Glück bin ich über viele Jahre darin trainiert, dass mir so etwas wenigstens auffällt und ich es reflektieren kann. Ich habe zwei Quellen gefunden, die mir beim Nachdenken geholfen haben. Allen, die Ähnliches auch schon erlebt haben – oder denen es noch bevorsteht! – dies zur Anregung:

In meiner Schulzeit haben wir noch Theodor Storm gelesen. Mir gefiel, eher im Gegensatz zu meinen Mitschülern, „Pole Poppenspäler“, den Storm 1874 veröffentlichte. Mich rührte damals die zarte Liebesgeschichte sehr an. Die auch vorhandenen sozialkritischen Untertöne (Storm war ja kein Biedermeier-Dichter mehr!) habe ich seinerzeit noch nicht gesehen, auch nicht den bemerkenswerten Schritt in dieser Novelle, dass der junge Held sich nicht von Standesgrenzen abhalten lässt, seine Liebe zu heiraten, ein Mädchen „vom fahrenden Volk“, denn ihr Vater zieht mit einer Marionettenbühne von Ort zu Ort. Heute könnte man dies auch als Beitrag für das Thema „Integration“ und „Kampf gegen Vorurteile“ verstehen.

Aber schon damals habe ich begriffen, dass „Kindheit“ nichts Statisches ist, sondern die Zeitumstände, also die aktuellen Lebensbedingungen, widerspiegelt, wie sie Storm in seiner Novelle verarbeitet: Während der Erzähler der Geschichte als Kind fasziniert von den Aufführungen der Marionettenbühne ist, sind die Jugendlichen Jahre später, von Kriegsereignissen in der Zwischenzeit geprägt, völlig abgeneigt und machen sich über „so etwas Kindisches“ lustig und treiben damit den alten Puppenspieler, dem Spott preisgegeben, in die Depression. Er lebt nicht mehr lange.

In meiner Erinnerung war dies ein Kernpunkt der Erzählung. Ich habe es mir immer so gemerkt, dass bereits vor über 100 Jahren über „die Jugend von heute“ geklagt wurde, also offensichtlich ein eher zeitloses Phänomen, das mit den jeweils aktuell lebenden Jugendlichen gar nicht so viel zu tun hat, sondern mit dem Verhältnis der Generationen. Um so überraschter war ich, als ich zur Vorbereitung dieses blog-Eintrags bei Storm noch einmal nachgelesen habe, denn er beschränkt sich bei der allgemeinen Beschreibung der Situation eher beiläufig auf ganz wenige, allgemein gehaltene Aussagen, die auch Verständnis für die „neue Generation“ ahnen lassen:

Es war aber damals in unserer Stadt nicht mehr die harmlose schaulustige Jugend aus meinen Kinderjahren; die Zeiten des Kosakenwinters lagen dazwischen, und namentlich war unter den Handwerkslehrlingen eine arge Zügellosigkeit eingerissen; die früheren Liebhaber [des Marionettentheaters, J.L.] unter den Honoratioren aber hatten ihre Gedanken jetzt auf andere Dinge. (Zitat S. 63 – 64)

Das ist also mein erster Gewährsmann!

Ein zweiter Autor, jetzt einer meiner eigenen Altersklasse, hat mich dann beim Lesen vor einigen Jahren verunsichert, ich fühlte mich von ihm „ertappt“! Es handelt sich um den Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer, der psychologische Hintergründe des Erlebens älterer Menschen in seinem Buch „Altern ohne Angst“ vorstellt.

Zwar im üblichen Psychoanalytiker-Jargon, aber doch sehr einfühlsam, beschreibt er dort:

Es ist nicht leicht, die Bewegungs-Grandiosität der Jugend zu ertragen, wenn man sich selbst von ihr verabschieden musste. Ein Thema erbitterter Diskussionen sind zum Beispiel die Radfahrer (meist jung) in den Fußgängerzonen; auch hier wird den beweglichen Jungen eine Aggressivität unterstellt („Radel-Rambos“), die in Wahrheit den Alten eignet, die sich von der schnellen, raumgreifenden Bewegung vor allem deshalb bedroht fühlen, weil sie auf die Täter mit neidischer Wut reagieren.

Lärm ist Bewegung; Schallwellen sind Bewegungen der Luft. Auch Lärm beherrschen junge Leute weit besser als alte, sie können sich an ihm vorbei konzentrieren, sie produzieren ihn hemmungsloser und spinnen sich in ihren eigenen (Musik-)Lärm ein wie in einen Kokon. (Zitat S. 51)

Kommentar überflüssig!

Die Quellen meiner Zitate sind:

Für Theodor Storm (1817 – 1888) und seine 1874 erschienene Erzählung/Novelle:

Theodor Storm. Pole Poppenspäler. Novelle. – Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2002.
(= Reclams Universal-Bibliothek 6013). S. 63 – 64.

Für Wolfgang Schmidbauer (geb.1941):

Wolfgang Schmidbauer: Altern ohne Angst. Ein psychologischer Begleiter. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Tb.Vlg. 2003. (= rororo 61474). S. 51.

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