Donnerstag, 16. Oktober 2008

Heilpädagogik und christliche Gesellschaftsethik


In meinem letzten blog habe ich angekündigt, auch Texte aus meinem „Fundus“ auf die Seite zu setzen. Dazu gehört der nächste Beitrag, der schon einmal in einer Sondernummer der Zeitschrift meiner bisherigen Einrichtung erschienen ist. Ursprünglicher Anlass war die Heilpädagogik-Fachtagung v. 7.5.2007 meiner damaligen Fachschule, die mit dieser Veranstaltung das Jubiläum von 15 Jahren Ausbildung von Heilpädagoginnen und Heilpädagogen feierte (Ausbildung auf Fachschulebene, als Aufbaustudium zeitweilig in Kooperation mit der Ev. Fachhochschule Hannover auch mit Diplom-Abschluss). Ich hatte an diesem Tag die Leitung einer Arbeitsgruppe, über die ich in diesem Beitrag schreibe.


Die Tagung war für mich ein willkommener Anlass, über Anregungen aus den vergangenen Jahren zu berichten, die mein Denken sehr beeinflusst haben. Maßgeblich war dabei die Tagung der DGSP 2005 zum Thema „Ökonomie ohne Menschen?“ mit der Vorstellung der „Soltauer Impulse“. und das Kennenlernen des von mir für seinen unermüdlichen Einsatz in sozialen Fragen bewunderten Jesuiten-Professors Friedhelm Hengsbach, der auf der Tagung einer der Hauptredner war. Ich wusste von ihm schon zuvor, dass er prominentes Mitglied des Beirats von Attac ist.


(Der folgende Beitrag ist bereits erschienen in: UNTERWEGS. Zeitschrift der Samariteranstalten Fürstenwalde. Sonderheft UNTERWEGSdokumentiert. 1/2007. S.29)



Heilpädagogik und christliche Gesellschaftsethik: Anpassung oder Einmischung in gesellschaftliche Prozesse?


Wie sieht die Heilpädagogik ihren gesellschaftlichen Standort? Bleibt sie als Wissenschaft (wie es fast alle anderen Wissenschaften auch so gern tun) „wertfrei“ oder sollte sie eindeutig Stellung beziehen zu gesellschaftlichen Fehlentwicklungen? Oder überlässt sie die Entscheidung, sich einzumischen, Farbe zu bekennen und unbequeme Fragen zu stellen dem einzelnen Heilpädagogen und seiner Grundeinstellung als individuelle Gewissensentscheidung? Fordert nicht aber die Beschäftigung mit den Menschenbildern, die hinter den heilpädagogischen Theorien stehen, eine klare Positionierung gegenüber den sozialpolitischen Ereignissen, die uns ständig begegnen, regelrecht heraus? Reicht es aus, auf Studien hinzuweisen, die heilpädagogischen Handlungsbedarf bei Kindern und Jugendlichen belegen, die in Armut aufwachsen müssen, ohne gleichzeitig „die Finger in die Wunde“ bekannter Ursachen von Kinderarmut zu legen wie z.B. beim Thema „Hartz IV“ und auch an dieser Stelle für Verbesserungen einzutreten? Dies sind für mich offene Fragen, zu denen ich zwar eine persönliche Meinung habe, aber keine offizielle Antwort weiß. Wie ist der Diskussionsstand hierüber in der Heilpädagogik?


Andere Berufsrichtungen und Fachverbände im psychosozialen Bereich sind da offenbar etwas „bissiger“ und äußern sich einmütig zu fragwürdigen gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Deutschland. So besuchte ich 2005 einen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) in Berlin zum Thema „Ökonomie ohne Menschen? Zur Verteidigung der Kultur des Sozialen“. Hier wurde vielfältig analysiert und kritisiert, welche Auswirkungen auf Klienten und Mitarbeiter das immer mehr um sich greifende rein betriebswirtschaftliche Denken in der Organisation sozialer Arbeit hat und wie diese Entwicklung mit dem neoliberalen Paradigma und seinem Alleinvertretungsanspruch zusammenhängt. Die dazugehörenden Begrifflichkeiten bestimmen immer mehr die Fachsprache und verdrängen ältere Bezeichnungen und Wertvorstellungen aus den Köpfen, insbesondere der nachwachsenden Generationen. Im Rahmen der DGSP streiten die „Soltauer Impulse“ gegen diese Entwicklungen.


Einer der Hauptredner auf diesem Kongress war Friedhelm Hengsbach. Er sprach zum Thema Mehr Markt reicht nicht. Gesellschaftliche Risiken brauchen eine solidarische Sicherung“ und kritisierte die derzeitigen politischen „Reformen“, die zur Ensolidarisierung in der Bevölkerung und zum Abbau solidarischer Sicherungssysteme führen (Beispiele: Hartz IV und Umbau des Renten- und Krankenversicherungssystems). Hengsbach ist Jesuitenpater und Prof. für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik. Er vertritt dezidiert ein christliches Menschenbild und eine darauf aufbauende christliche Gesellschaftsethik, deren Zukunft er ökumenisch sieht. Aus diesem Verständnis heraus konstatiert er Verpflichtungen für Gesellschaft und Staat, speziell gegenüber den Schwächeren in der Gesellschaft, deren Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten er sehr bedroht sieht. Gegen große Widerstände, auch in seiner Kirchenleitung, kämpft er für seinen Blickwinkel unbeugsam und beständig und stellt sein Wissen u.a. im wiss. Beirat von Attac zur Verfügung. Er artikuliert sich als Theologe und Wissenschaftler somit eindeutig auch im politischen Bereich, „mischt sich ein“, wenn auch fern von politischen Parteien.


Ein Modell auch für Heilpädagogen? Oder eher etwas für ältere Politiker, die enttäuscht von den Entwicklungen in Deutschland sind? Ich denke da speziell an Heiner Geißler, der auf der Basis der katholischen Soziallehre ein Buch geschrieben hat über die politische Botschaft des Evangeliums.


Ich möchte von ihm aus einer anderen Schrift ein abschließendes Zitat bringen: „ Wenn Jesus heute da wäre, würde er an der Seite der Leute von Attac stehen. Der globalisierte Kapitalismus steht im völligen Gegensatz zum Evangelium. Das sagt übrigens auch der Papst.“ (Zitat aus „Zukunft Sozial“. S.198.)



In unserer kleinen Arbeitsgruppe stellte ich den Ansatz von Friedhelm Hengsbach und die „Soltauer Impulse“ vor. Wir diskutierten über ihre Angemessenheit und stellten uns gegenseitig Erschwernisse in unseren Arbeitsfeldern vor.



Literaturhinweise:


Heiner Geißler: Die Gier zerfrisst die Gehirne. - In: Stephan Hebel und Wolfgang Kessler (Hrsg.): Zukunft Sozial. Wegweiser zu mehr Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. und Oberursel: Publik-Forum und Frankfurter Rundschau 2004. S. 194-199.


Heiner Geißler: Was würde Jesus heute sagen? Die politische Botschaft des Evangeliums. 6.Aufl.- Reinbek: Rowohlt 2005. (= rororo 61 594).


„Schröder will den Starken gefallen, deshalb tritt er kräftig nach unten!“ Arno Luik interviewt Friedhelm Hengsbach. - In: STERN 48/2003. S. 77 – 82.


Friedhelm Hengsbach: Das Reformspektakel. Warum der menschliche Faktor mehr Respekt verdient. - Freiburg u.a.: Herder 2004. (= HERDER spektrum 5544).


Friedhelm Hengsbach: Eine Selbstdemontage der politischen Klasse. Vorläufige Bilanz der Agenda 2010. - In: Hella Baumeister u.a. (Hrsg.): Die Hartz-“Reformen“. - Hamburg: VSA-Vlg. 2005. S. 157 – 165.


Friedhelm Hengsbach: Die andern im Blick. Christliche Gesellschaftsethik in den Zeiten der Globalisierung. 2.Aufl. - Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2005.


„Ökonomie ohne Menschen?“ Zur Verteidigung der Kultur des Sozialen. - Themenheft der Sozialpsychiatrischen Informationen. 35. Jahrg. 2005, H.4.





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