Mittwoch, 2. Dezember 2009

"Auch ich bin ein Einwanderer ins Internet" - Leserbrief an das Publik-Forum

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Das schon häufiger von mir zitierte Publik-Forum brachte am 6.11.2009 eine Ausgabe heraus (21/09) mit dem Schwerpunktthema


Was ich bin, geht alle an

Internet: Zwischen Nabelschau und echter Begegnung


Im „Editorial“ findet sich die folgende launige Einstimmung von Eva Baumann-Lerch, die mich sehr angesprochen hat. Ich zitiere:


Liebe Leserin, lieber Leser,


den Redakteurinnen und Redakteuren von Publik-Forum kann man an vielen Orten begegnen: Bei Interviews und Recherchereisen, Vorträgen und Lesertreffen, Kirchentagen und Kongressen, am Telefon und per E-Mail. Aber bei Facebook finden Sie nicht einen von uns. Auch nicht bei Myspace, Lokalisten oder einem der vielen anderen sozialen Netzwerke im Internet. Da wir alle keine „digital natives“ (wie die Eingeborenen des Computerzeitalters genannt werden) sind, sondern erst als Erwachsene ins Internet einwanderten, hält uns eine unbestimmte Scheu davor zurück. Fasziniert bis skeptisch blinzeln wir über die Schultern unserer heranwachsenden Kinder in die virtuellen Gemeinschaften: Bringen Web-Communitys die Menschen näher zueinander? Oder sind sie bloß eine Bühne für Eitelkeit und dummes Geplapper? Chancen und Risiken der digitalen Gemeinschaften erörtert unser Fokus in diesem Heft […].



Deshalb habe ich folgenden Leserbrief verfasst:


An das Publik- Forum 2.12.2009

redaktion@publik-forum.de


Betrifft: Leserbrief/Email zum Themenheft „Was ich bin, geht alle an“ / Internet: Zwischen Nabelschau und echter Begegnung, H. 21/09


Liebes Publik-Forum,


ein hervorragendes Thema, wunderbar von Ihnen angekündigt, denn auch ich bin kein „digital native“: Als „Einwanderer“ bezeichnet, habe ich mich selten in diesem Zusammenhang mit so wenigen Worten so zutreffend charakterisiert gefühlt!


Die von Ihnen benannte Scheu werde ich wohl bis zu meinem Lebensende nicht ganz ablegen können, schließlich geht es um eine schon revolutionär zu nennende Veränderung der Sozialisation junger Menschen und ihrer sozialen Bezüge, das muss man wohl schon „mit der Muttermilch“ aufgenommen haben, um wie selbstverständlich „auf diesen Wogen“ mit zu schwimmen. So nutze ich mittlerweile gerne Emails und betreibe sogar einen eigenen blog, aber mehr im Sinne einer kleinen privaten Zeitung für Kommentare zum Zeitgeschehen und zur Veröffentlichung von kleinen Texten und schönen Zitaten, nicht aber zur Information der Außenwelt über meine aktuellen privaten Gefühle und Erlebnisse.


Denn da wird es für mich kritisch und ich kann mit allen diesen Plattformen wie „Facebook“ und „Myspace“ wenig anfangen, eher schüttelt es mich dabei.


Einen prominenten Unterstützer für meine Abwehr sehe ich in Wolfgang Schmidbauer, der sich zwar vorrangig in der folgenden Äußerung mit der Handy-Kultur beschäftigt hat, aber bei all den neuen technischen Entwicklungen vermischen sich die Bereiche ja: Es sei eine Generation herangewachsen, die das Handy brauche als „erste Beziehungsprothese der Kulturgeschichte“, und ihre Angehörigen stünden in der Gefahr, zu „Eremiten der Elektronik“ zu werden. (Gefunden in einer Buchbesprechung von: Wolfgang Schmidbauer: Ein Land – drei Generationen. Psychogramm der Bundesrepublik. Herder 2008)


Ich selbst bin durch mein Psychologie-Studium in den 70ger Jahren vorgeprägt von meinen Erwartungen an ein gutes Gespräch, in dem im Sinne von C. R. Rogers Echtheit und Empathie einen Platz haben müssten (Martin Buber und Alfred Adler lassen ebenfalls grüßen), so dass ich mit einer ausufernden Kommunikationsform ohne Mimik, Gestik und spürbare Gefühlsäußerungen emotional verhungere und mich reduziert fühle. Was für eine schizoide Welt! Sie wird aber wahrscheinlich immer stärker werden und ich bin mir bewusst, dass ich mit meinen anderen Vorstellungen einer vermutlich aussterbenden Epoche angehöre. Keine Chance, aber es ist traurig und wohl die Zukunft unserer Kultur, emotional zu verarmen.


Wie gut, dass auch Publik-Forum dagegen hält und immer wieder zeigt, welche lebenswerten Ziele und Bewegungen es auch unterhalb einer solchen glatten Kommunikationsoberfläche noch gibt!


Mit freundlichen Grüßen für die Weihnachtszeit!

Jürgen Lüder


P.S. Falls es Sie interessiert, können Sie mich digital besuchen unter http://alter-dinosaurier.blogspot.com! Herzlich willkommen!



Ich wollte mich nicht unbedingt nur als Kulturpessimisten „outen“. Denn das Internet bietet hervorragende Chancen zur Vernetzung und zur Verbreitung wichtiger kritischer Inhalte, kann Gleichgesinnte miteinander verbinden, wenn ich nur z.B. an Attac denke. Aber als Gesprächsersatz, nein danke! Da wusste schon der alte Watzlawick, dass zu einer zwischenmenschlichen Kommunikation neben der Sachebene auch die Ausdrucksmöglichkeiten einer Beziehungsebene gehören. Und ein geschulter Zuhörer kennt aus Erfahrung, dass die besonders spannenden Eindrücke oft diejenigen sind, die „so nebenbei“ produziert werden in Körpersprache, Mimik, Gestik, Stimmklang, und damit nicht nur das zeigen, was der andere mir „offiziell“ mitteilen möchte. Natürlich gibt es auch im Internet kleine Chancen für aufschlussreiche „Fehlleistungen“, die schon Sigmund Freud beschrieben hat, kleine „Verschreiber“ als Botschaft an den Adressaten, die so rausgerutscht und bei einer eher luschigen Korrektur nicht aufgefallen sind. Aber gegenüber allen anderen Kommunikationsformen ist es schon eine gewaltige Verarmung, auf alle anderen Signale zu verzichten.

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