Montag, 22. Dezember 2008

Weihnachtsgeschichten vorlesen I

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Überwiegend hat es mir große Vorteile gebracht, im Rahmen meiner Altersteilzeit jetzt das Leben eines Rentners führen zu können, ohne die früheren täglichen dienstlichen Verpflichtungen und mit einem größeren zeitlichen Rahmen für mich. Aber eine Ausnahme habe ich jetzt doch vor Weihnachten erlebt: Niemand wollte von mir Weihnachtsgeschichten vorgelesen bekommen! Ein herber Verlust, weil mir das Vorlesen jedes Jahr viel Freude gemacht hat. Als kleiner Ersatz werde ich deshalb hier im blog davon berichten.


Da ich schlecht übers Internet vorlesen kann, meine „Favoriten“ auch Copyright-geschützt sind, so dass ich nicht einfach eine Kopie ins Netz stellen kann, will ich hier nur einige der in meinen Augen besonders guten und auch zum Vorlesen geeigneten Geschichten vorstellen und vielleicht zum Nachlesen oder Vorlesen anregen.


Bemerkenswert finde ich, dass sich im Bereich der Weihnachtsgeschichten ein ganz anderes Bild ergibt als bei Gedichten, von denen ich vor ein paar Tagen an dieser Stelle berichtet habe. Sentimentale Geschichten kenne ich kaum (hätte sie aber auch nach drei Absätzen weggelegt); bei den zeitgenössischen Geschichten haben die Verfasser nach meiner Einschätzung oft Mühe, das Besondere an Weihnachten in irgendeiner Form einzufangen, sind sich aber meistens einig, dass es nichts mit Konsum, Sozialprestige oder hülsenhaften Konventionen zu tun haben kann. Es reizt dann besonders Satiriker, die Finger in die Wunde eines sinnentleerten Weihnachtens zu legen. Aber nur derjenige kann m.E. eine Satire schreiben, der irgendwo im Hinterkopf noch eine Idee hat, wie die Verhältnisse idealer weise anders laufen müssten.


Absoluter „Hit“ bei meinen (Vor-)Lesungen war immer die Geschichte von Robert Gernhardt „Die Falle“ (veröffentlicht 1977). Hier macht sich Gernhardt über das Weihnachten einer neureichen Konsumbürgerfamilie lustig (Vorsicht! Ähnlichkeiten mit Lebenden sind nicht ausgeschlossen, auch wenn die Geschichte mehr in der Zeit der vergangenen 68-Generation spielt). Der als Weihnachtsmann angeheuerte Student bringt nacheinander immer mehr weihnachtliche Helfer ins Spiel, die die übertölpelten Eltern nahezu um ihren Verstand bringen, den beiden Kindern aber eine kleine Ahnung davon verschaffen, wie Weihnachten auch sein könnte.


Diese Geschichte ist auch – nach vielen Jahren - immer noch ein Hit in den Buchhandlungen.

Ich selbst habe sie in den letzten Jahren immer aus dem schönen Sammelband von Regine Hildebrandt „Geschichten vom anderen Weihnachten“ vorgelesen. Dieser Band kommt meiner Vorliebe für eher „schräge“ Weihnachtsgeschichten entgegen, die offenbar auch Regine Hildebrandt, die verstorbene hoch engagierte Sozialministerin Brandenburgs, teilte. Aber wie sollte Weihnachten auch anders zu verstehen sein? Immerhin ging es ja einmal um die Geschichte der Geburt eines Kindes in großer Armut, mit Eltern ohne Bleibe, unverheiratet zu allem Überfluss auch noch, heute wahrscheinlich ein Fall für die Sozialarbeiter der Jugendfürsorge (wenn die denn genügend Zeit hätten und ihre Mittel nicht gerade wieder einmal gekürzt würden, so dass sie die Auflage hätten, nur bei den wirklich unumgänglichen Katastrophenfällen Hilfe zu organisieren, die etwas kostet.)


Eine andere, bittere und gleichzeitig sehr komische Satire ist der Klassiker von Heinrich Böll „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ (veröffentlicht 1951). Alles nur wegen Tante Milla! Da sonst ihr psychotischer Zusammenbruch droht, muss die gutbürgerliche Familie ihr jeden Tag erneut Weihnachten ausrichten. Der Tante geht es dabei gut, nur die Familie zeigt in den folgenden zwei Jahren, in denen die Geschichte spielt, gewisse Verschleißerscheinungen … Ein systemischer Familientherapeut (den es 1951 noch nicht gab), könnte seine Freude daran haben … Leider ist diese Geschichte sehr lang und erfordert deshalb ein geduldiges Publikum.- „Frieden, Frieden, flüsterte der Engel." Natürlich ein mechanischer, dafür aber täglich ... Das ist eine Formulierung, die sich in meinem Gehirn festgesetzt hat.


In einem eher „schrägen Milieu“ spielend, dabei aber mehr liebenswürdig humorvoll als bissig satirisch, ist mein letzter „Weihnachtsklassiker“, nämlich „Die Leihgabe“ von Wolfdietrich Schnurre aus seinem Erzählband „Als Vaters Bart noch rot war“ (erschienen 1958). Schon das Lokalkolorit hatte es mir immer angetan: Der kleine Junge als Ich-Erzähler, der mit seinem allein erziehenden arbeitslosen Vater zur Zeit der Weltwirtschaftskrise (der aus dem letzten Jahrhundert, nicht der, auf die als mögliches zukünftiges Ereignis z.Zt. alle Medien starren!) tagsüber ins Museum für Naturkunde in die Invalidenstr. geht, um sich bei den Sauriergerippen etwas aufzuwärmen, und Frieda, die Freundin des Papas, die beide gelegentlich mit Essen versorgt, das sie als Küchenhilfe in einer Großdestille am Alexanderplatz organisieren kann. Bei so vielen Berührungspunkten muss einem Berliner ja schon fast das Herz übergehen! In ihrer großen Armut (erinnert an HARTZ IV oder weniger) ist der Wunsch des Jungen nach einem Weihnachtsbaum für den Vater ein riesiges Problem, denn „klauen“ (Vorschlag von Frieda) will er keinen. Bis er eine ungewöhnliche Idee hat …


Ich mag die Sprache dieser Geschichte und möchte deshalb eine kleine Kostprobe anführen:


Die Blautanne, auf die Vater es abgesehen hatte, stand inmitten eines strohgedeckten Rosenrondells. Sie war gut anderthalb Meter hoch und ein Muster an ebenmäßigem Wuchs.


Da der Boden nur dicht unter der Oberfläche gefroren war, dauerte es auch gar nicht lange, und Vater hatte die Wurzeln freigelegt. Behutsam kippten wir den Baum darauf um, schoben ihn mit den Wurzeln in den Sack, Vater hing seine Joppe über das Ende, das raussah, wir schippten das Loch zu, Stroh wurde drübergestreut, Vater lud sich den Baum auf die Schulter, und wir gingen nach Hause.


Hier füllten wir die große Zinkwanne mit Wasser und stellten den Baum rein.


Als ich am nächsten Morgen aufwachte, waren Vater und Frieda schon dabei, ihn zu schmücken. Er war jetzt mit Hilfe einer Schnur an der Decke befestigt, und Frieda hatte aus Stanniolpapier allerlei Sterne geschnitten, die sie an seinen Zweigen aufhängte; sie sahen sehr hübsch aus. Auch einige Lebkuchenmänner sah ich hängen.


Ich wollte den beiden den Spaß nicht verderben; daher tat ich, als schliefe ich noch. Dabei überlegte ich mir, wie ich mich für ihre Nettigkeit revanchieren könnte.


Schließlich fiel mir ein: Vater hatte sich einen Weihnachtsbaum geborgt, warum sollte ich es nicht fertigbringen, mir über die Feiertage unser verpfändetes Grammophon auszuleihen? Ich tat also, als wachte ich eben erst auf, bejubelte vorschriftsmäßig den Baum, und dann zog ich mich an und ging los.


Der Pfandleiher war ein furchtbarer Mensch; schon als wir zum erstenmal bei ihm gewesen waren und Vater ihm seinen Mantel gegeben hatte, hätte ich dem Kerl sonst was zufügen mögen; aber jetzt musste man freundlich zu ihm sein.


Ich gab mir auch große Mühe. Ich erzählte ihm was von zwei Großmüttern und „gerade zu Weihnachten“ und „letzter Freude auf alte Tage“ und so, und plötzlich holte der Pfandleiher aus und haute mir eine herunter und sagte ganz ruhig:


„Wie oft du sonst schwindelst, ist mir egal; aber zu Weihnachten wird die Wahrheit gesagt, verstanden?“


Darauf schlurfte er in den Nebenraum und brachte das Grammophon an. „Aber wehe, ihr macht was an ihm kaputt! Und nur für drei Tage! Und auch bloß, weil du´s bist!“


Neugierig auf die ganze Geschichte geworden? Ich füge – für alle Fälle – meine Quellen an.


Da alle drei Geschichten zu den bekannteren gehören, vermute ich, dass es kein Problem sein sollte, sie auch in neueren Anthologien zu finden!

1. Heinrich Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit. Satiren. – München: Deutscher Taschenbuch Vlg. 1966. (= dtv 350). Darin: „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ (1951). S. 7 – 34.

2. Robert Gernhardt: Die Falle. – In: Regine Hildebrandt: Geschichten vom anderen Weihnachten. A.a.O. S.19 – 27.

3. Regine Hildebrandt (Hrsg.): Geschichten vom anderen Weihnachten.- Freiburg i.Br.: Herder 1996. (= Herder Spektrum Bd. 4486).

4. Wolfdietrich Schnurre: Als Vaters Bart noch rot war. Ein Roman in Geschichten.- Frankfurt a.M. u.a.: Ullstein 1973. (= Ullstein Buch 382). Darin: „Die Leihgabe“. S. 51 – 56. [Diese Geschichte ist auch bei R. Hildebrandt abgedruckt.]

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