Dienstag, 6. Juli 2010

Dinosauria XX: Generationen-Überblick

.

In meinem blog v. 2. Juli 2010 über Wolfgang Schmidbauers Buch „Ein Land – drei Generationen. Psychogramm der Bundesrepublik“ habe ich mich mit seiner Feststellung beschäftigt, wie unterschiedlich verschiedene Generationen, speziell in Deutschland, von ihrem Leben und Erleben her sein können, wie sehr ihre unterschiedlichen historischen Erfahrungen das soziale Klima der Epoche bestimmen, in der sie jeweils die „Oberhoheit im Lande" führen, bis sie dann von der nächsten Generation abgelöst werden, die sie zuvor aber noch auf die Zukunft hin zu prägen versucht haben. Das Letztere gelingt meist nur mit sehr zwiespältigem Erfolg, da „die Jungen“ sich immer von ihren Eltern emanzipieren und „ein eigenes Ding machen“ wollen, auf den genaueren Blick hin aber doch in Konflikten hängen bleiben, die ihnen ihre „Altvorderen“ vererbt haben …


Zum „Dinosaurierdasein“ gehört dabei m. E. in diesem Zusammenhang, einerseits mit Wehmut zu realisieren, dass die „H o c h zeit“ der eigenen Generation längst vorbei ist, also die Phase, in der wir Dinosaurier die „Oberhoheit im Lande“ führten. Längst prägen die Nachgeborenen das neue Klima – und stehen jetzt wie wir früher vor ähnlichen Schwierigkeiten, wie sie für den Weiterbestand unserer Kultur sorgen sollen. Andererseits umfliegt uns – und sei es nur als Kompensation für die erlebte Bedeutungs-Einbuße – ein Hauch von Hochmut, der sich aus der Bewusstheit der Tatsache herleitet, dass wir mittlerweile immerhin soviel „Leben“ und Vergleichsmöglichkeiten „angehäuft“ haben, dass wir die Relativität und Zeitabhängigkeit vieler Entwicklungen leichter einsehen können als „die jungen Leute“. Das schützt uns davor, nicht so schnell auf „Moden“ hereinzufallen wie die jüngere Generation (hoffentlich!!), ergibt aber dadurch vielleicht eben auch etwas Besserwisserisches. Jedenfalls ist es eindeutig ein anderer Blick, der sich aufgrund solcher Zeitspannen von Jahrzehnten herausbildet, ganz abgehoben von dem modisch eingeengten Blick nur auf die Gegenwart. Aber vielleicht sollte ich das nicht ironisieren, sondern eher ein wenig stolz und dankbar (!) dafür sein.


Denn ich kann durch meine Lebensspanne (geboren 1947) durchaus schon einiges „bieten“: Die Hungerjahre nach dem Krieg, der allmähliche Wiederaufbau, die Phase des Kalten Kriegs mit strammem Antikommunismus, die folgende „Tauwetterperiode“, festgemacht am Wirken Willy Brandts, die unblutige Revolution von 1989 mit dem Untergang des „Realen Sozialismus“, neue Hoffnungen auf eine einfachere Welt, dann aber das Erschrecken angesichts eines entfesselten Neoliberalismus/Kapitalismus. Nicht vergessen zuvor: Die Ängste vor einem Atomkrieg und der Kampf der Friedensbewegung, mittlerweile leider eher sanft entschlummert … Unübersehbar jetzt die aufbrechenden Weltkatastrophen durch den ungezügelten Raubbau an der Natur, aber auch die immer ungerechtere Verteilung der Ressourcen durch den globalisierten Kapitalismus.


Vieles, eigentlich alles bleibt offen im Hinblick auf eine klare Zukunft (unsere Kinder sind nicht zu beneiden!); es sieht bedrohlich aus, wenn man genauer hinschaut und nicht nur so vor sich hin lebt. Dabei haben wir eine ungewöhnliche Zeitspanne hinter uns: Wann hat es jemals einen so langen Zeitraum von Frieden in Deutschland gegeben? Dass die Menschen dennoch (nicht unberechtigt) Angst hatten, z.B. vor einer atomaren Auseinandersetzung, sollte man allerdings vielleicht nicht vergessen.


Wenn ich das alles betrachte, habe ich schon ein sehr inhaltsreiches Leben führen dürfen! Verschiedene „Gesellschaftsmodelle“ sind bereits an mir vorbeigezogen, wobei ich allerdings nicht gerade behaupten möchte, „dass wir in der besten aller Welten lebten“ und dass die Vernunft einen großen Sieg errungen hätte. (Dafür muss sie wohl erst einmal wieder Anlauf nehmen … )


Jetzt aber genug der Selbstbeweihräucherung!


Es ist mein Leben, dadurch bedeutet es mir viel. Aber es gibt viel Aufregenderes! Nämlich, wenn ich die Lebensspannen meines Vaters und meiner Mutter dagegen setze, ein Aufruf zu eigener Bescheidenheit!


Meinen Vater möchte ich hierbei nur kurz vorstellen. Durch seine Lebenszeit von 1901 bis 1979 war er (glücklicherweise!) zu jung für den I. Weltkrieg und (glücklicherweise!) zu alt für den II. Weltkrieg, in dem er nur in rückwärtigen Diensten eingesetzt wurde – denn sonst gäbe es mich vielleicht nicht!


Meine Mutter aber, die von 1905 bis 1995 lebte, hat ihn durch ihr höheres erreichtes Lebensalter noch „übertrumpft“, wenn man die verschiedenartigsten Ereignisse und Erfahrungen ihres Lebens zusammenfasst:


Fünf verschiedene Regierungssysteme hat sie durch- und überlebt! Sie erzählte uns Kindern stolz, dass sie dem Kaiser noch als kleines Mädchen „Unter den Linden“ in Berlin begegnet sei, dann kam kurz die Weimarer Republik und noch kürzer, dafür um so schrecklicher, die NS-Zeit mit ihrem Terror und dem Verlust der Heimat, lange Jahre Westdeutschland folgten mit den unterschiedlichsten Kanzlern, schließlich, am Ende ihres Lebens, die Wiedervereinigung. Das hat sie aber nur noch am Rande miterlebt und sie hatte auch nicht mehr die Kraft, die Orte ihrer Kindheit noch einmal in Ruhe und Frieden zu besuchen, was jetzt ja problemlos möglich gewesen wäre. Vielleicht war ihr das langsam alles zu viel und zu aufregend …


Denn die Zäsuren zwischen diesen Epochen waren mehr oder weniger fast alle durch Katastrophen gekennzeichnet, unter denen besonders „die kleinen Leute“ zu leiden hatten: den I. Weltkrieg mit seinen Hungerwintern, die große Inflation in der Weimarer Zeit, in der meine Mutter als Bankangestellte das einzige Familienmitglied war, das durch tägliche Gehaltszahlungen noch zum Unterhalt der Familie beitragen konnte, den II. Weltkrieg mit Flucht und Vertreibung und allen Schrecknissen, die dieser besonders für Frauen an der Ostfront mit sich brachte (meine Mutter war zu verschämt, jemals genauer darüber Auskunft zu geben), schließlich der Wiederbeginn, völlig entwurzelt, in einer neuen „Heimat“, die aber immer irgendwie fremd blieb. Zwar hatte unsere Familie keine gefallenen Angehörigen zu beklagen, aber mein Großvater verhungerte 1945 in Berlin und mein ältester Bruder war – sicherlich durch alle diese Erlebnisse und familiäre Einflüsse, wer weiß, was sonst noch alles hineinspielte, wir haben es nie genauer herausfinden können – kurz nach dem Krieg mit 17 Jahren lebensmüde …


Ich habe das als kleiner Junge nie so richtig überblickt und als älterer dann eher unter unserer gedrückten Familienatmosphäre gelitten und sie später meinen Eltern angelastet. Jetzt, im Stadium des „Dinosauriers“ aber kann ich erstmalig gerechter sehen, was mein Vater und meine Mutter alles ertragen und getragen haben. Irgendwie waren sie die wirklichen Helden der damaligen Zeit, so wie die Überlebenden in vielen anderen Familien auch! Opfer und Helden zugleich! (In anderen Familien kam vielleicht als drittes Element auch noch die Täterschaft in der NS-Zeit hinzu, also eine Verstrickung in die Schandtaten des III. Reichs. Aber auch solche Familien wollten und mussten weiterleben. „Deckel drauf“ und durch … Das war wahrscheinlich die Parole der Zeit des Wiederaufbaus und beginnenden Wirtschaftswunders. Nach allem meinen Wissen bin ich jedoch davon überzeugt, dass in meiner Familie eine solche Verstrickung nicht vorlag.)


Die zweite Hälfte ihres Lebens sollte meine Mutter dann in der neuen Bundesrepublik leben. Das ist die Zeit, in der ich sie dann kennen lernen durfte … Unter diesen Lebensbedingungen ein Kind im Jahre 1947 zur Welt bringen, das war schon tollkühn (und sicherlich nicht ganz freiwillig!). Ich bin jedenfalls meinen Eltern dankbar dafür!


Hier ließe sich manches anfügen, es gibt mittlerweile Biographien auch von einfachen Menschen aus dieser Zeit, und das Schicksal meiner Eltern würde sicherlich hinreichend viel Stoff für ein umfangreiches Buch bieten. Wer würde es aber schreiben? Und: Würde es jemand lesen? Ich selber allerdings ziehe schon einen Gewinn daraus aufgrund aller dieser Überlegungen: Mein Blick auf meine Eltern hat sich seither einerseits geschärft, andererseits bin ich in meinem Urteil viel milder und wahrscheinlich gerechter geworden (s.o.), das ist eine Übung, die sicherlich vielen Menschen gut täte, die noch einen „Kampf mit ihren Alten ausfechten“, bisher in der Anklage stecken geblieben sind und deshalb noch nicht den Schritt zum Verstehen gehen konnten. (Es gibt da noch ein Dilemma mit dem Begriff „verstehen“: umgangssprachlich verwechseln ihn viele Leute mit „verzeihen“, während die „Verstehende Psychologie“ den Versuch meint, in sachlicher Form die Situation, Gedanken, Gefühle, Motive, Aussagen, Handlungen, soziale Kontakte … eines Menschen wie in einem Mosaik zusammenzusetzen und zu sehen, ob ein „roter Faden“ auffindbar ist, der einen Sinnzusammenhang erschließen könnte, zunächst ohne jegliche Bewertung, moralinfrei.)


Ein reiches Leben! Viel Kummer, aber auch große Taten (ich stelle mir gerade meine Mutter als Trümmerfrau in Berlin vor: sie hat die ganze Familie davon ernährt!), offensichtlich auch eine Menge Mut, alles durchzustehen. Aber hätte es eine Alternative gegeben? Dann folgten Jahrzehnte eines „braven“ Lebens als Nur-Hausfrau, nachdem sie zuvor in verschiedenen Lebensphasen „die Situation geschmissen“ hatte. (So etwas zu thematisieren, waren allerdings erst Gedanken des Feminismus aus der Phase meiner Studentenzeit und später. Sie waren meiner Mutter als älterer Frau eher fremd, aber in jüngeren Jahren wäre sie vielleicht, das traue ich ihr durchaus zu, auch für solche Gedanken offen gewesen, wenn jemand sie damals schon vertreten und sie sich getraut hätte, eine größere Eigenständigkeit auf Dauer einzufordern! Mein armer Vater, was wäre dann auf ihn zugekommen!?) Ich kann verstehen, dass sie am Ende von all diesem Leben auch ausgelaugt war und an den gewaltigen Veränderungen nach 1989 nicht mehr größeren Anteil nehmen konnte. Während die jungen Leute ganz in der Gegenwart leben und anderes oft kaum denken können, hatte sie in ihren letzten Lebensjahren die Gegenwart eher ausgeklammert und lebte in ihrer Vergangenheit. Ein Vorrecht des hohen Alters!

Keine Kommentare: