Freitag, 2. Juli 2010

Wolfgang Schmidbauers Psychogramm der Bundesrepublik


Dinosaurier aller Bundesländer, gebt endlich euren Widerstand gegen die Wirklichkeit auf! Wir sind von einer neuen Generation in Deutschland abgelöst worden, die die Welt aus anderen Blickwinkeln betrachtet und ganz logisch andere Strategien zum Leben und Überleben anwendet als wir!

Wolfgang Schmidbauer analysiert dies in seinem neuesten Buch
Wolfgang Schmidbauer: Ein Land - drei Generationen. Psychogramm der Bundesrepublik. - Freiburg i. Br. u.a.: Herder-Vlg. 2009.

Ich habe schon aus diesem Buch zitiert und werde es in der nächsten Zeit sicherlich noch häufiger anführen, weil ich in ihm viele unbequeme, leider aber einleuchtende Argumente für die Veränderungen im Sozialen und in der Seelenlage der Menschen in unserer Gesellschaft gefunden habe, die in einem nachvollziehbaren Kontext zu den unterschiedlichen Lebens- und Erlebensformen der Generationen nach dem II. Weltkrieg in unserem Lande stehen.

Viele Reaktionen jüngerer Leute, sei es das geringere politische und soziale Engagement, sei es der Wunsch, im "Hotel Mama" länger auszuharren und die Eigenständigkeit nach hinten hinaus zu verschieben, haben mich in den letzten Jahren sehr befremdet. Ich konnte sie einfach nicht verstehen. In Schmidbauers Analyse ist plötzlich vieles von dem schlüssig, was mir bisher ein Rätsel war. Ich finde es nicht weniger problematisch als früher, kann mir aber eher einen Sinn daraus machen. Und sehe auch meine Mitbeteiligung als Angehöriger der vorhergehenden Generation, die in den Augen von Schmidbauer zwar bereit war, gegen vorgefundene gesellschaftliche Strukturen zu protestieren oder sogar zu revoltieren, die aber ihre Kinder auch in einer Weise (meist symbiotisch) eingespannt hat, dass diese nur mit einer Ablehnung der Werte ihrer Elterngeneration reagieren konnten. Jedenfalls scheint dies ja das Schicksal aller jungen Leute zu sein: etwas Eigenes zu schaffen, was ihnen die Ablösung von "den Alten" ermöglicht, an die sie dennoch durch vielfältige Identifikationen gebunden bleiben. Jede Generation badet dabei auch die "Sünden" ihrer Vorgänger mit aus.

Mühsam an Schmidbauers Buch finde ich gelegentlich sein ausdrücklich psychoanalytisches Vokabular; dadurch werden manche Schilderungen auf eine komplizierte Ebene gehoben, die ich mir erst in eine Sprach-Ebene allgemeinerer Art zurück übersetzen muss, auf der mir dann Beschreibungen leichter einleuchten. Vielleicht ist das ein Mangel an einschlägiger Bildung meinerseits, andererseits habe ich lange eher Texte aus dem individualpsychologischen Kontext gelesen, die einfach eingängiger waren.

Wolfgang Schmidbauer ist wie ich ein "Wessi". Das kommt schon in dem Untertitel "Psychogramm der Bundesrepublik" zum Tragen. Für uns als Deutsche insgesamt müsste jetzt noch ein Autor den genialen Wurf zustande bringen, auch die davon durchaus abweichenden Generationen-Schicksale aus dem anderen Teil Deutschlands mit einzuarbeiten. Denn alle jungen Leute, die jetzt geboren werden, haben allmählich an einer "Mischkultur" Anteil, die zwar erst sehr, sehr langsam nach 1989 zu entstehen beginnt, aber doch in vielen Familien schon eine Realität ist, wie z.B in meiner. Was machen die "Misch-Anteile" von Ost- und Westeltern aus? Aber auch bei allen anderen "reinen" Ossi-Kindern bleibt die große Frage: Was macht die Entwurzelung ihrer Eltern nach 1989 mit ihnen? Das alles zusammenzubringen, erfordert noch eine große Forschungsarbeit!

Neben diesen allgemeinen Anmerkungen möchte ich aber noch ein Zitat aus Schmidbauers Buch bringen, das wunderbar die Verschiebungen im Erleben von Studenten und Schülern zu "meiner Zeit" (ich begann mein Psychologie-Studium im SS 1967) und in der heutigen Generation aufzeigt (von den heutigen - befremdlichen - Gebräuchen habe ich als Fachschuldozent bis vor zwei Jahren auch noch etwas mitbekommen, und sei es nur in Diskussionen mit Kollegen):

In der Schulung von Kadern der Studentenbewegung wurden Klagen über Strenge und Unzugänglichkeit des Lehrmeisters als bürgerliche Wehleidigkeit denunziert. Wer zu neuen Ufern aufbricht, darf nicht über nasse Füße jammern. Eine Theorie, die man vom ersten Satz an versteht, kann nicht viel wert sein. Zum rechten Bewusstsein zu kommen, das angesagt kritische Denken zu erfassen, kostet Mühe und wird durch gnadenlose Kritik unzureichender Versuche befördert. Wer die Dialektik des Seminarleiters nicht begreift, soll sich schämen und wenigstens den Mund halten.

In der phobischen Bildungskultur [der Jetztzeit, J.L.] werden am Abend des Fortbildungstages Fragebögen verteilt. Der Kurs wird evaluiert. Nicht die Belehrten, sondern die Lehrer bekommen Noten. Die Dozenten erhalten Rückmeldungen, ob es auch angenehm genug war, von ihnen zu lernen, ob sie gut genug vorbereitet waren und ihre Schützlinge nicht durch einen Mangel an Anschaulichkeit, durch Praxisferne, Theorielastigkeit oder einen Mangel an geschickt eingesetzten, unterhaltsamen Medien überfordert haben. (S. 202)

Ich habe nie zu den "Kadern" gehört, insofern kenne ich derart verbissene Schulungen nicht aus eigener Anschauung. Bei uns Psychologen war der Umgangston friedlicher, aber auch durchaus kritisch! Als wirklich klug galt nur derjenige, der andere fundiert kritisieren konnte. Aber ich habe auch vielfältige Anerkennung und Förderung erlebt, das war schon sehr personenabhängig. Wenn man einen Prof. nicht mochte, ging man eben nicht in seine Vorlesung.

Das geht heute im Zeitalter der ständigen Leistungskontrollen als zukünftiger "Bachelor" wohl nicht mehr oder würde zu viele Punkte kosten. Dafür gibt es aber all die Möglichkeiten, die Schmidbauer in seinem zweiten Absatz aufgezählt hat, um dennoch seinen Unmut auszudrücken.

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