Donnerstag, 4. Januar 2018

Meine Überzeugungen: "Was ich von Erich Fromm gelernt habe"

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Das folgende Zitat von Erich Fromm hat mich seit Studentenzeiten begleitet und mir eine Orientierung gegeben. Es hat meine Gedanken im Post v. 2.1.2018 zum Thema "Sinn" stark beeinflusst. [Ich hatte es bereits früher gepostet. Weil es aber zwingend in den Zusammenhang meiner jetzigen Überlegungen gehört, wiederhole ich dies heute.]

Der Mensch kann auf historische Widersprüche [von Menschen erzeugte Probleme und Ungerechtigkeiten, Anm. JL] reagieren, indem er sie durch eigenes Handeln aufhebt; existentielle Widersprüche [der unausweichliche Tod, Anm. JL] dagegen kann er nicht aufheben, sondern nur auf verschiedene Art darauf reagieren. Er kann sie durch beruhigende und beschönigende Ideologien beschwichtigen. Er kann seiner Ruhelosigkeit durch äußerste Aktivität, sei es in Vergnügungen oder in der Arbeit, zu entfliehen suchen. Er kann seine Freiheit aufzuheben suchen, indem er sich zu einem Instrument außer ihm liegender Mächte macht, mit denen er sein Ich identifiziert. Trotzdem bleibt er unzufrieden, angsterfüllt und ruhelos. Es gibt nur eine Lösung: Der Wahrheit ins Auge sehen und sich mit dem fundamentalen Alleinsein und der Verlassenheit in einer Welt abfinden, die dem menschlichen Schicksal gegenüber indifferent ist, und anzuerkennen, dass es keine den Menschen transzendierende Macht gibt, die sein Problem für ihn lösen kann,

Der Mensch muss die Verantwortung für sich selbst übernehmen und sich damit abfinden, dass er seinem Leben nur durch die Entfaltung seiner eigenen Kräfte Sinn geben kann. Aber dieser Sinn bedeutet nicht Gewissheit; das Suchen nach einem Sinn wird durch den Wunsch nach Gewissheit sogar erschwert. Ungewissheit ist gerade die Bedingung, die den Menschen zur Entfaltung seiner Kräfte zwingt. Sieht er der Wahrheit furchtlos ins Auge, dann erfasst er, dass sein Leben nur den Sinn hat, den er selbst ihm gibt, indem er seine Kräfte entfaltet: indem er produktiv lebt. Nur ständige Wachsamkeit, Aktivität und unermüdliches Bemühen bewahrt uns davor, in der wesentlichen Aufgabe zu versagen - in der Aufgabe, unsere Kraft voll zu entwickeln innerhalb der Grenzen, die durch unsere Lebensgesetze gezogen sind. Der Mensch wird nie aufhören, immer wieder verwirrt zu sein und sich neue Fragen zu stellen. Nur wenn er die menschliche Situation, die seiner Existenz innewohnenden Widersprüche und seine Fähigkeit der Entfaltung erfasst, kann er seine Aufgabe lösen: er selbst und um seiner selbst willen zu sein und glücklich zu werden durch die volle Verwirklichung der ihm eigenen Möglichkeiten - der Vernunft, der Liebe und der produktiven Arbeit.

           Erich Fromm: Psychoanalyse und Ethik. - Zürich: Diana-Vlg. 1954. S. 59 - 60.

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