Montag, 13. Juli 2009

Lieblingszitate XXXXVIII

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„Lesen als große Wanderung…“, ein wunderbarer Aufruf! Ich muss dabei gestehen, dass ich mich vor „dicken Büchern“ etwas fürchte, weil ich nicht weiß, ob ich wirklich ihre Schlussseiten erreiche. Aber ohne Lesen leben? Ich kann es mir nicht vorstellen und hoffe sehr, dass meine Augen und mein Geist mich da noch lange unterstützen.


Und wenn ich es selbst schon nicht jeden Tag schaffe, ein Lesen hat einen festen Platz in unserem Tagesablauf: Mein kleiner Sohn Paul Jakob besteht darauf, dass ich ihm vor dem Einschlafen vorlese. Keine Pille-Palle, sondern einen richtigen Kinderroman: Im Augenblick lesen wir wieder ein klassisches Buch über „Doktor Dolittle“, eine wundervolle, warmherzige Lektüre!


„Man hat uns das Lesen nicht beigebracht“ – diesen Satz in vielerlei Varianten kann jeder hören, der mit jüngeren Menschen zu tun hat; ob in der Schule oder an der Universität. Literaturstudenten geben ohne Umschweife zu, noch nie einen Roman „ganz“ gelesen zu haben.


Fotokopierte Exzerpte der Sekundärliteratur haben das Buch verdrängt, der Genuss des Lesens ist der informatorischen Lektüre gewichen. Lesen aber als große Wanderung durch das Unwirkliche, gerade in unserer Zeit der optischen Inflation, ist die Chance zur Besinnung, zur Selbstbegegnung. Wer sich dem Sog fremder Phantasie nie ausgesetzt hat, kann schwer eigene entwickeln; kann Bedrohungen und Zwängen der wirklichen Welt kaum Aktivität entgegensetzen, nicht einmal Toleranz.


Intellektuelle Trägheit entspricht schnell moralischer Leere. Sie ist auffüllbar – zum Beispiel mit politischem Chaos.


FRITZ J. RADDATZ


Aus: F. J. Raddatz (Hrsg.): Die ZEIT - Bibliothek der 100 Bücher. St 645. Vorspann.

[In meiner Sammlung seit dem 25.11.1980]

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